Montag, 5. März 2012

Peter Rosenthal: Die Narbe

Lange Zeit hatte ich es vermieden nach Rumänien zurückzureisen. Der Hauptgrund war, dass ich in meiner eigenen Stadt nicht als Westler wahrgenommen werden wollte. Denn aus dem Westen zu kommen, hatte eine so große Bedeutung, dass die Identität des Einzelnen, auch unter Freunden in den Hintergrund geriet. Man konnte sich dagegen kaum wehren und deswegen hatte ich nach meiner Ausreise lange Zeit darauf verzichtet nach Rumänien zurückzukehren.
Irgendwann überwog die Neugier und ich reiste mit meiner Frau, den Kindern und Freunden „zurück“ nach Rumänien. Es ging über Budapest nach Siebenbürgen. Eines unserer  Reiseziele war Tîrgu –Mureş. Eine Stadt am Marosch, die mit ihrer kaputt renovierten Innenstadt aus dem Gruselkabinett sozialistischer Architektur planmäßiger Trostlosigkeit hervorgegangen ist. Sie wirkte auf mich so, als hätte sie Heimat ganzer Scharen von Selbstmördern sein können, aber vielleicht auch nur deswegen, weil ich die Rückreise nach Rumänien mit Arad begonnen hatte. Ich hätte mir ja denken können, dass mit der Erfahrung verlorener Erinnerungen, dem Verschwinden von Freunden und Bekannten aus der Vergangenheit bald ein unplanmäßiger Reisegefährte mit von der Partie sein würde: der Tod. Eigentlich kein Überraschungsgast, wenn man sich um Vergangenes bemüht. Als wollte ich mich von diesem Gesellen befreien, dachte ich kaum dort angekommen: bloß kein langer Aufenthalt! Aber bis zur Abfahrt nach Klausenburg mussten wir noch einige Stunden in dieser Stadt bleiben, deren Zentrum auf mich, wie ein Toter im Sonntagsanzug wirkte, und deren Zukunft auch schon vergangen zu sein schien.
Angesichts einiger wild verfallenen Häusern, fragte eine meiner Töchter:
„Papa, war hier Krieg?“
Irgendwann ging es dann doch weiter, zumindest für uns, über Turda durch die „Cîmpiile Turzii“, die Turdaer Felder. Mais und Weizenfelder einerseits, dann hie und da orange-, oder violettgesprenkelte Obstbäume. Am Straßenrand boten Bauern Käse und Obst an. Schilf säumte die Ufer der Teiche entlang kleiner Feldwege, wo Angler ihre Köder nach Karpfen auswarfen. In der Ferne sah ich einen einsamen Hügel, der sich wie ein Brotleib aus der Tiefebene erhob. Die Felder drumherum waren gelb, vielleicht hellbraun und das Grüne der Wiesen erahnte man eher, als dass man es noch sah. Am Samoschufer klebte sattes Moos und der Fluss strömte mit erstaunlicher Wucht durch das flache Bett dieser ungeordneten Tiefebene einem diesigen Horizont entgegen. Der Reichtum der vom blauen Himmel bedeckten Felder stach nicht gerade ins Auge und dennoch hat er die Menschen dieser Gegend während Krieg, Diktatur, Korruption, und Ausbeutung über Wasser gehalten. Auf dem gegenüberliegenden Ufer sah ich eine mit Heu beladene Pferdekutsche ins nächste Dorf hinaufzockeln.
Wir fuhren weiter Richtung Klausenburg, wo sich das Grab meines Großvaters Samuel auf einem der Hügel vor der Stadt befindet. Ich hatte es einmal als Kind mit Großmutter und Vater besucht und kann mich noch an den Friedhofsaufseher erinnern, der Rabbi und Kantor in einem war. Jedenfalls bekam er von meinem Vater ein paar Lei, damit er für Samu den Kaddisch, das heilige תְגַּדַּל וְיִתְקַדַּשׁ שְׁמֵהּ רַבָּא yit̠gaddal wǝyit̠qaddaš šǝmēh rabbā’ sprechen solle. Er sang auch etwas Hebräisches, der Kaddisch war es nicht, denn der Minjen fehlte, die zehn Männer, die für dieses Gebet notwendig gewesen wären. Sein fremder Gesang senkte sich mit dem Sommerwind in die Tiefebene und ich fühlte, dass das Unbekannte der Sprache und der Melodie in der Stimme des Kantors in einer verborgenen Weise mit etwas in mir verbunden war, einem möglichen Selbst, einem Selbst, der ich damals, als Schüler der vierten Klasse einer sozialistischen Schule nicht war, und wie ich glaube, auch als Tourist aus Deutschland nicht wirklich geworden bin. Das Anderswerden vergegenwärtigte sich aus der Erinnerung, die mit dem eben Erlebten auf etwas deutete, was eine ganze Zeit der Kindheit begleitend, sich im Schreiben und im Lesen auch von Texten wie dem folgendem von Rabi Akiba vergegenwärtigte.

„Und allen offenbarte er einen Namen, dem Moses aber offenbarte er alle Namen, sowohl die unaussprechlichen, als auch die Namen, welche auf der Krone des Königtums, die an seinem Haupte ist, eingegraben sind, als auch die Namen, die auf dem Throne der Herrlichkeit eingegraben sind, als auch die Namen, die an dem Siegelring an seiner Hand eingegraben sind; sowohl die, die stehen wie Feuersäulen rings um seine Merkaba, als auch die Namen, welche die Schechina umgeben gleich den Adlern der Merkaba; als auch die Namen, mit denen Himmel und Erde, Meer und Trockenes, Berge und Täler, die Meerungeheuer der Urtiefe und die Ordnungen der Schöpfung, der Ma’onoth, des Zebul, und der Araboth, und der Thron der Herrlichkeit, die Schätze des Lebens und die Schätze des Segens, die Speicher des Taues und des Regens, und die Speicher der Blitze, die Speicher der Wolken die Speicher der Geister und die Speicher der Seelen der Lebenden und Toten, gesiegelt worden sind.“

Ich suchte nach dem Ort an dem der Gesang des Kantors damals stattgefunden hat, ein Gesang aus der Ferne des untergegangenen Judentums Osteuropas, der durch so viel Zeit bis zu dem Grab meines Großvaters gedrungen ist, den ich nicht gekannt hatte.
Ich fragte weiter nach dem Friedhof, aber niemand wusste Genaues: „Ein jüdischer Friedhof, aber ja, es gibt hier sogar zwei davon, ganz in der Nähe, nur wo?“ Ich habe keinen gefunden, schade. Diese Reise lehrte mich, und weder war es anders zu erwarten, noch bin ich selbst falschen Hoffnungen aufgesessen, dass die Orte der Erinnerung in der Wirklichkeit unauffindbar sind. Ich besuchte sie, aber ich fand sie nicht. Und stieß ich auch auf Bekanntes, war es fremd, es war immer anders fremd, weil das Unmittelbare, der Eindruck, von damals, den ich als Erinnerung in mir trug und in mir trage, und das, was ich vor Augen hatte, sich hie und da wie auf einer überbelichteten Photographie überlagerte und an anderen Ecken und Enden gegenseitig löschte.
Ich reiste wie ein Zaungast an der Schattenlinie einer Vergangenen Zeit, deren Verlust mir während der Rückreise wie befürchtet nur bewusster und schmerzhafter wurde. Aber der Verlust der Orte hat ihre Kehrseite in einer Art Partitur der Stille, in der die Melodien meiner Kindheit aufbewahrt sind: Stairways to heaven, trei culori cunosc pe lume, oder der Gesang des Kantors.   
Zwei Wochen nach dem Aufenthalt in Klausenburg, während der Rückkehr von der Rückkehr stand ich vor dem jüdischen Friedhof in Budapest. Der war zu finden und der Weg dahin eigentlich einfach: man fuhr mit der Straßenbahn aus der Stadt hinaus, vorbei an einem Gefängnis, stieg ein-, zweimal um, und dann ging es nur noch geradeaus durch die Trostlosigkeit der Budapester Vororte. Dann war man am Friedhof. Ich fand das Tor weit offen, und ging hinein, einfach so, ohne Anmeldung. Der äußerliche Verfall kroch mit hinein, das Gelände war verwildert. Die großen Spazierwege zwischen den Gräbergruppen waren noch begehbar, aber einzelne Gräber kaum zu erreichen. Sie waren mit Moos und Gehölz und fingerlangen Dornen überwachsen wie bei Dornröschen, nur war dort kein Märchenprinz in Sicht. Auf zersprungenen Grabsteinen konnte man die Namen der Toten kaum entziffern, manche Grabsteine waren eingebrochen, andere irgendwie zur Seite gekippt, abgedreht oder -gewendet. Und von überall wuchsen diese spitzen Stacheln aus der Erde. Leicht hätte man stolpern und sich verletzten können, so dass es für mich kein beschaulicher Totensonntag wurde, und auch diese Toten, die im Leben wahrscheinlich so friedlich wie Schafe waren, verstanden dort in ihrer gedächtnislosen Ewigkeit keinen Spaß – sie wehrten sich. Das war ein Privatgelände, kein Platz um auszuharren, und ich machte mich schon auf den Rückweg, als ich einen breiten Säulengang entdeckte, der durch das Friedhofsgelände irgendwie quer zu verlaufen schien und scheinbar ins Nirgends führte. Ich zögerte einen Augenblick, dann folgte ich einer Allee in die Richtung dieser Säulen. Die Sonne strahlte am hellblauen Himmel und der Stein reflektierte das Licht. Ich ging weiter darauf zu, wie man so geht, ohne zu wissen warum, vielleicht weil das Licht weh tut, man einen heißen Kopf hat: noch ein Schritt und dann ist es getan, dann hat man die Augen wieder frei. Ich schritt durch die Allee geblendet, ohne Sicht und hörte unter meinen Füßen die Kieselsteine des Friedhofs knirschen. Die Gräber traten in den Hintergrund und wie getragen von dem Geflüster der sonnengerösteten Kiesel tauchte ich aus dem Licht und stand vor dem ersten Säulenbogen: Aaron Jakob, Aaronson Eda, Abraham Klari, Abrahamson Salomon, Aron Gabor, Oskar... scheinbar nicht enden wollende Namenslisten reihten sich von A bis Z auf die Säulenwände und flimmerten vor meinen Augen. Es handelte sich um eine Erinnerungstafel für die deportierten Budapester Juden. Weiter vorne links war eine kleine Baumgruppe, vielleicht Platanen, ich atmete tief durch und wollte schon dorthin in deren Schatten, doch sah ich zwischen den eingravierten Namen andere Namen, die nachträglich von Hand dazwischengeritzt worden sind, sozusagen im letzten Moment, mit dem letzten Atemzug der Erinnerung, im Grunde schon zu spät, aber gerade noch rechtzeitig, um noch eine Erinnerung vor der Endlösung zu retten. Manche Namen konnte man kaum entziffern, so wie sie da, von Hand, in den Marmor geritzt waren. Die notdürftige, flüchtige Mühe Unbekannter stand dort zwischen den Zeilen nicht enden wollender Namensreihen. Skizziertes drängte sich ins vollendete Werk der Vernichtung: auch der noch, und auch der, und der Schwarz, und auch der Weiss und der Salomon, und der…
Ich machte kehrt wie aus einer Sackgasse und verließ diesen Ort in Richtung Haltestelle. In der Tram war ich der einzige Fahrgast.

Peter Rosenthal, Auszug eines noch unveröffentlichten Romanmanuskript, mit freundlicher Genehmigung

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen