Dienstag, 3. April 2012

Moshe Zimmermann I

Der Holocaust ist zweifellos ein starkes Element im Fundament des jüdischen Bewußtseins der Gegenwart - in Israel ebenso wie in jeder jüdischen Diaspora. Die traumatischen Erfahrungen des Holocaust bleiben nicht nur für die Überlebenden, sondern auch für ihre Nachkommen und selbst für die nicht unmittelbar betroffenen Juden stets präsent. Dabei geht es nicht allein um die kollektive Erinnerung, sondern auch um die aktuellen kollektiven Ängste. Die seit dem Ende des Dritten Reichs und seit dem Holocaust vergangene Zeit schafft keine 'normale' historische Distanz oder sachliche Betrachtungsweise – je weiter der Holocaust in die Vergangenheit rückt, desto größer und stärker wird seine mythische Wirkung. Die Ängste verstärken sich, und die Erinnerung an den Holocaust wird zunehmend akuter.

Die Entwicklung in Israel verläuft dabei besonders paradox: je weiter der Holocaust zurückliegt, desto stärker prägt er das Bewußtsein der Israelis und den Sozialisationsprozeß im Staat. Bei der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 gingen die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung davon aus, daß die Deklaration eines jüdischen Staates auf mehreren Elementen historischer als auch völkerrechtlicher Art beruht. Seit 1948 rückt jedoch der Holocaust in diesem Kontext immer stärker in den Vordergrund und überschattet alle anderen Elemente, die religiöse Argumentation vielleicht ausgenommen. Der Holocaust ist so allmählich zum zentralen Stützpfeiler der israelischen Selbstbestimmung und Legitimation geworden. Mehr noch: Der Holocaust wird als Bestätigung des Zionismus verstanden, d.h. der 'eigenen', im Wettbewerb mit anderen stehenden "Lösung der Judenfrage". Ziel des Zionismus, so heißt es im nachhinein, war die Schaffung eines Staates für die verfolgten oder sich in Gefahr befindenden Juden. Diese Betrachtungsweise begleitet den Zionismus seit der Gründung der Zionistischen Organisation im Jahre1897 und hat seit 1933 nur an Validität gewonnen. Seit dem Holocaust jedoch scheint der Judenstaat in den Augen der Zionisten bzw. der Israelis sogar die einzige und absolute Antwort auf die existenzielle Bedrohung der Juden zu sein; denn wenn die Emanzipation als 'Lösung der Judenfrage' im Holocaust so kläglich versagt hat, wird die Selbstemanzipation zur einzig wirksamen Lösung der 'Judenfrage' - so die zionistische bzw. israelische Logik. Der Holocaust dient also nicht nur als Existenzrechfertigung für den Staat Israel, er definiert den Staat Israel als einzige positive 'Lösung der Judenfrage'. Auch wenn dies als gegeben akzeptiert werden kann - so bleibt doch die nächste Schlußfolgerung der Israelis fraglich, wonach Israel nicht nur die einzige Lösung verkörpert, sondern Anspruch auf "Alleinvertretung" der ermordeten Juden oder 'die Holocaust-Erinnerung' erheben darf. Der Staat Israel – und mit ihm die Mehrheit seiner jüdischen Bürger – glaubt tatsächlich an diesen 'Alleinvertretungsanspruch'. Israel ist als Staat für Juden, der jeden jüdischen Menschen als potentiellen Israeli betrachte, auch der Staat seiner ehemaligen potentiellen Bürger, die seit 1933 vielleicht nach Palästina ausgewandert wären, bzw. hätten auswandern können, wenn damals ein jüdischer Staat existiert hätte. Israel versteht sich deswegen auch als Alleinerbe der ermordeten Juden Europas, als einziger Vertreter des Judentums überhaupt und erhebt demzufolge einen besonderen Anspruch auf die Holocausterinnerung.

Dieser Anspruch Israels wird in der jüdischen Diaspora nicht immer akzeptiert. Erstens bestreitet man Israels Monopolstellung als 'Lösung der Judenfrage': daß die Emanzipation in Europa in den 30er Jahren gescheitert ist, besagt nicht, daß die Emanzipation als solche prinzipiell zum Scheitern verurteilt ist. Zweitens betont man, daß die Mehrheit der ermordeten Juden keineswegs Zionisten waren und deswegen den Staat Israel niemals als ihren Vertreter oder Erben nominiert hätten. Israel hat sich also selbst zum 'Alleinvertreter' ernannt, ohne Rücksicht auf den Willen der im Holocaust ermordeten Juden oder der nach dem Krieg in der Diaspora lebenden Juden. Die zentrale Bedeutung des Holocaust für Israel erschwert es den Israelis jedoch, auf diesen 'Alleinvertretungsanspruch' zu verzichten. Als das Land mit der größten Anziehungskraft für Juden nach 1945 kann Israel von den Protesten der Diaspora unberührt bleiben und braucht auf seinen Anspruch trotz allem nicht zu verzichten. Israel kann die Entscheidung dieser Frage der Zukunft überlassen.

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