Dienstag, 3. April 2012

Moshe Zimmermann II

Ist das Judentum die Familie oder der Vater, dann sind Aufklärung und Emanzipation die Wege in die Verlorenheit, dann ist der Zionismus – seinem Selbstverständnis nach – aber der goldene Faden, der den verlorenen Sohn zum Vater, zur Familie, zurückführt. Das Besondere an dieser Familie ist dabei allerdings, dass sie inzwischen ihren Namen von „Religion“ zu „Nation“ gewechselt hat. Der Sohn, der der Familie einer Religion verloren ging, kehrt in den Schoß einer Nation zurück.
Aus Theodor wurde Benjamin Se’ev – Herzl kehrte zu seinem Volk zurück. Die Erzählung vom verlorenen Sohn ist der Anfang der Selbstdarstellung einer zionistischen kollektiven Biografie, wie sie durch die Biografie Theodor Herzls symbolisiert wird. Die polaren Elemente der Geschichte – Assimilation und Zionismus – werden durch die Person Herzls veranschaulicht. Der durch die Assimilation verlorene Sohn, Theodor Herzl, kehrte in Folge der Bekehrung zum Zionismus zum Vater zurück.

Dass Emanzipation und Aufklärung keineswegs ein Gewinn, sondern Verlust bedeuten – daran glaubt die Mehrheit der Juden allerdings nicht. Andernfalls hätte sie sich nicht für das Leben in der Diaspora entschieden. Die gleichberechtigt in aller Welt lebenden Juden sehen sich selbst nicht als verlorene Kinder der jüdischen Familie und empfinden deshalb den zionistischen Bruder nicht als Kontrast, als verlorenen und zurückgekehrten Sohn. Diese emotionale Position wird vom Zionisten ignoriert.

Auch die zionistische Familie ihrerseits verfügt über einen verlorenen Sohn: den religiösen Juden. Juden haben sich zumeist auf Grund ihrer Religion als Juden definiert und deshalb die politische Lösung des jüdischen Nationalismus abgelehnt. Die Mehrheit der Juden blieb also im Wesen nicht-zionistisch. Sogar nach der Entstehung des Staates Israel orientieren sich ultra-othodoxe Juden wenn nicht anti-zionistisch, dann mindestens nicht-zionistisch. Als der säkulare Zionismus religiös wurde, konnte der verlorene Sohn zum Zionismus „zurückkehren“.

Angeblich gehören die sechs Millionen ermordeten Juden nicht zur Geschichte des verlorenen Sohns, Tote sind für immer verloren. Doch hier zeigt sich ein besonderes Phänomen: In der kollektiven Erinnerung des Zionismus leben die sechs Millionen weiter, indem sie die Existenz und Aktivität des Zionismus und des Staates Israel stets von Neuem legitimieren. Die Präsenz dieser real verlorenen Söhne und Töchter ist zentral für das israelische Wesen. Verlorene Kinder in Form geisterhafter Schatten.

Der national-religiöse, nationalistische Zionismus hat sein eigenes Narrativ vom verlorenen Sohn: Der Sohn, der die Grenzen von 1947/48, also die Teilung Palästinas akzeptierte und die anderen Teile des Landes „vergaß“. Eroberung und Siedlungsbewegung seit 1967 gelten in den Augen der nationalistischen Zionisten als Rückkehrer des verlorenen Sohns. Dass der Sohn damit in das Haus der nationalen Familie der Palästinenser einbrach, ist für diese Zionisten unwesentlich.

Der Sozialismus galt als internationale Lösung  vieler Probleme – auch der „Judenfrage“. Er stand im Gegensatz zur nationalen Lösung. Die zionistische Familie hat diesem „verlorenen Sohn“, dem jüdischen Sozialismus, den Weg in die Familie angeboten: über den zionistischen Sozialismus. Der Sohn, der diesen Weg beschritt, ahnte das Ende nicht. Und zuletzt verließ der jüdische Sozialismus den Sozialismus zu Gunsten eines anti-sozialistischen Zionismus. Um dieses verlorenen Sohnes trauert der humanistische Sozialismus. Es freut sich der zionistische Nationalismus.

Prof. Moshe Zimmermann.

Moshe Zimmermann, geboren 1943 in Jerusalem, lehrt seit 1974 an der Hebräischen Universität Jerusalem Geschichte, seit 1986 als Inhaber des Richard Koebner-Lehrstuhls. Er ist einer der wichtigsten Vertreter einer Richtung neuerer Historiker, die als Postzionisten bezeichnet werden.

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