Aus Theodor wurde Benjamin Se’ev – Herzl kehrte zu seinem
Volk zurück. Die Erzählung vom verlorenen Sohn ist der Anfang der
Selbstdarstellung einer zionistischen kollektiven Biografie, wie sie durch die
Biografie Theodor Herzls symbolisiert wird. Die polaren Elemente der Geschichte
– Assimilation und Zionismus – werden durch die Person Herzls veranschaulicht.
Der durch die Assimilation verlorene Sohn, Theodor Herzl, kehrte in Folge der
Bekehrung zum Zionismus zum Vater zurück.
Dass Emanzipation und Aufklärung keineswegs ein Gewinn,
sondern Verlust bedeuten – daran glaubt die Mehrheit der Juden allerdings
nicht. Andernfalls hätte sie sich nicht für das Leben in der Diaspora
entschieden. Die gleichberechtigt in aller Welt lebenden Juden sehen sich
selbst nicht als verlorene Kinder der jüdischen Familie und empfinden deshalb
den zionistischen Bruder nicht als Kontrast, als verlorenen und zurückgekehrten
Sohn. Diese emotionale Position wird vom Zionisten ignoriert.
Auch die zionistische Familie ihrerseits verfügt über einen
verlorenen Sohn: den religiösen Juden. Juden haben sich zumeist auf Grund ihrer
Religion als Juden definiert und deshalb die politische Lösung des jüdischen
Nationalismus abgelehnt. Die Mehrheit der Juden blieb also im Wesen
nicht-zionistisch. Sogar nach der Entstehung des Staates Israel orientieren
sich ultra-othodoxe Juden wenn nicht anti-zionistisch, dann mindestens
nicht-zionistisch. Als der säkulare Zionismus religiös wurde, konnte der
verlorene Sohn zum Zionismus „zurückkehren“.
Angeblich gehören die sechs Millionen ermordeten Juden nicht
zur Geschichte des verlorenen Sohns, Tote sind für immer verloren. Doch hier
zeigt sich ein besonderes Phänomen: In der kollektiven Erinnerung des Zionismus
leben die sechs Millionen weiter, indem sie die Existenz und Aktivität des
Zionismus und des Staates Israel stets von Neuem legitimieren. Die Präsenz
dieser real verlorenen Söhne und Töchter ist zentral für das israelische Wesen.
Verlorene Kinder in Form geisterhafter Schatten.
Der national-religiöse, nationalistische Zionismus hat sein
eigenes Narrativ vom verlorenen Sohn: Der Sohn, der die Grenzen von 1947/48,
also die Teilung Palästinas akzeptierte und die anderen Teile des Landes
„vergaß“. Eroberung und Siedlungsbewegung seit 1967 gelten in den Augen der
nationalistischen Zionisten als Rückkehrer des verlorenen Sohns. Dass der Sohn
damit in das Haus der nationalen Familie der Palästinenser einbrach, ist für
diese Zionisten unwesentlich.
Der Sozialismus galt als internationale Lösung vieler
Probleme – auch der „Judenfrage“. Er stand im Gegensatz zur nationalen Lösung.
Die zionistische Familie hat diesem „verlorenen Sohn“, dem jüdischen
Sozialismus, den Weg in die Familie angeboten: über den zionistischen
Sozialismus. Der Sohn, der diesen Weg beschritt, ahnte das Ende nicht. Und
zuletzt verließ der jüdische Sozialismus den Sozialismus zu Gunsten eines
anti-sozialistischen Zionismus. Um dieses verlorenen Sohnes trauert der
humanistische Sozialismus. Es freut sich der zionistische Nationalismus.
Prof. Moshe Zimmermann.
Moshe Zimmermann, geboren 1943 in Jerusalem, lehrt seit 1974
an der Hebräischen Universität Jerusalem Geschichte, seit 1986 als Inhaber des
Richard Koebner-Lehrstuhls. Er ist einer der wichtigsten Vertreter einer
Richtung neuerer Historiker, die als Postzionisten bezeichnet werden.
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