Der Holocaust ist zweifellos ein starkes
Element im Fundament des jüdischen Bewußtseins der Gegenwart - in Israel ebenso
wie in jeder jüdischen Diaspora. Die traumatischen Erfahrungen des Holocaust
bleiben nicht nur für die Überlebenden, sondern auch für ihre Nachkommen und
selbst für die nicht unmittelbar betroffenen Juden stets präsent. Dabei geht es
nicht allein um die kollektive Erinnerung, sondern auch um die aktuellen
kollektiven Ängste. Die seit dem Ende des Dritten Reichs und seit dem Holocaust
vergangene Zeit schafft keine 'normale' historische Distanz oder sachliche
Betrachtungsweise – je weiter der Holocaust in die Vergangenheit rückt, desto
größer und stärker wird seine mythische Wirkung. Die Ängste verstärken sich,
und die Erinnerung an den Holocaust wird zunehmend akuter.
Die Entwicklung in Israel verläuft dabei
besonders paradox: je weiter der Holocaust zurückliegt, desto stärker prägt er
das Bewußtsein der Israelis und den Sozialisationsprozeß im Staat. Bei der
Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 gingen die Verfasser der
Unabhängigkeitserklärung davon aus, daß die Deklaration eines jüdischen Staates
auf mehreren Elementen historischer als auch völkerrechtlicher Art beruht. Seit
1948 rückt jedoch der Holocaust in diesem Kontext immer stärker in den
Vordergrund und überschattet alle anderen Elemente, die religiöse Argumentation
vielleicht ausgenommen. Der Holocaust ist so allmählich zum zentralen
Stützpfeiler der israelischen Selbstbestimmung und Legitimation geworden. Mehr
noch: Der Holocaust wird als Bestätigung des Zionismus verstanden, d.h. der
'eigenen', im Wettbewerb mit anderen stehenden "Lösung der
Judenfrage". Ziel des Zionismus, so heißt es im nachhinein, war die
Schaffung eines Staates für die verfolgten oder sich in Gefahr befindenden
Juden. Diese Betrachtungsweise begleitet den Zionismus seit der Gründung der
Zionistischen Organisation im Jahre1897 und hat seit 1933 nur an Validität
gewonnen. Seit dem Holocaust jedoch scheint der Judenstaat in den Augen der
Zionisten bzw. der Israelis sogar die einzige und absolute Antwort auf die
existenzielle Bedrohung der Juden zu sein; denn wenn die Emanzipation als
'Lösung der Judenfrage' im Holocaust so kläglich versagt hat, wird die Selbstemanzipation
zur einzig wirksamen Lösung der 'Judenfrage' - so die zionistische bzw.
israelische Logik. Der Holocaust dient also nicht nur als Existenzrechfertigung
für den Staat Israel, er definiert den Staat Israel als einzige positive
'Lösung der Judenfrage'. Auch wenn dies als gegeben akzeptiert werden kann - so
bleibt doch die nächste Schlußfolgerung der Israelis fraglich, wonach Israel
nicht nur die einzige Lösung verkörpert, sondern Anspruch auf
"Alleinvertretung" der ermordeten Juden oder 'die Holocaust-Erinnerung'
erheben darf. Der Staat Israel – und mit ihm die Mehrheit seiner jüdischen
Bürger – glaubt tatsächlich an diesen 'Alleinvertretungsanspruch'. Israel ist
als Staat für Juden, der jeden jüdischen Menschen als potentiellen Israeli
betrachte, auch der Staat seiner ehemaligen potentiellen Bürger, die seit 1933
vielleicht nach Palästina ausgewandert wären, bzw. hätten auswandern können,
wenn damals ein jüdischer Staat existiert hätte. Israel versteht sich deswegen
auch als Alleinerbe der ermordeten Juden Europas, als einziger Vertreter des
Judentums überhaupt und erhebt demzufolge einen besonderen Anspruch auf die
Holocausterinnerung.
Dieser Anspruch Israels wird in der
jüdischen Diaspora nicht immer akzeptiert. Erstens bestreitet man Israels
Monopolstellung als 'Lösung der Judenfrage': daß die Emanzipation in Europa in
den 30er Jahren gescheitert ist, besagt nicht, daß die Emanzipation als solche
prinzipiell zum Scheitern verurteilt ist. Zweitens betont man, daß die Mehrheit
der ermordeten Juden keineswegs Zionisten waren und deswegen den Staat Israel
niemals als ihren Vertreter oder Erben nominiert hätten. Israel hat sich also
selbst zum 'Alleinvertreter' ernannt, ohne Rücksicht auf den Willen der im
Holocaust ermordeten Juden oder der nach dem Krieg in der Diaspora lebenden
Juden. Die zentrale Bedeutung des Holocaust für Israel erschwert es den
Israelis jedoch, auf diesen 'Alleinvertretungsanspruch' zu verzichten. Als das
Land mit der größten Anziehungskraft für Juden nach 1945 kann Israel von den Protesten
der Diaspora unberührt bleiben und braucht auf seinen Anspruch trotz allem
nicht zu verzichten. Israel kann die Entscheidung dieser Frage der Zukunft
überlassen.
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