Montag, 8. Oktober 2012

Jüdisch sein zu müssen, ohne es wirklich sein zu können – Ein Identitätsdilemma im Lichte des Holocaust

Peter Pogany-Wnendt


Der folgende Text wurde in etwas umfangreicherer Form abgedruckt in „Psychoanalyse, Volume 16,2012, Heft 1 (28)“. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Herausgeber. Der Text entspricht fast unverändert dem Vortrag, den Peter Pogany-Wnendt gemeinsam mit Peter Rosenthal am 10.11.2010 am Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie Düsseldorf im Rahmen einer Veranstaltung gehalten hat, die unter dem Titel stand: „Jüdische Identität nach dem Holocaust – Teil 1: Stolpersteine... Entlang der Venloerstrasse – Im Gespräch mit Peter Rosenthal und Peter Pogany-Wnendt“. Der Autor ist Mitgründer und erster Vorsitzender des Arbeitskreis für Intergenerationelle Folgen des Holocaust, ehem. PAKH.

Im Gedenken an meine ermordeten Großeltern, die ich nicht kennen lernen durfte. Für meine verwundeten Eltern, die mir das Leben schenkten. Für meine Tante, die mir ihr Herz öffnete. Für meinen Bruder, mit dem ich dies jüdische Schicksal teile. Für Ute, die mir zur Seite steht. Für Rahel, die das Recht auf eine friedliche Zukunft hat.

A) Reflektionen zur „Jüdischen Identität“ im Lichte des Holocaust


Der Holocaust hat zweifelsohne die Identität der überlebenden Juden, aber auch die der Nachkommen entscheidend geprägt. Durch die Erfahrung der beinah vollständigen Vernichtung der europäischen Juden wird jüdische Identität heute in besonderem Maße vom Gefühl des Fremdseins, der Entwurzelung und damit des „Verlorenseins in der Welt“ bestimmt (Rosenthal 2003, S. 29); demzufolge wird sie auch stark von der Notwendigkeit einer Neuorientierung im Leben und von der Sehnsucht nach einer Heimat geprägt.

Das „Jüdische“


Was ist gemeint, wenn von jüdischer Identität gesprochen wird? Wie ist dieses „Jüdische“ definiert?

Jean Amery schreibt hierzu: „Nicht selten, wenn mich im Gespräch ein Partner hineinreißt in einen Plural – sobald er nämlich in einem beliebigen Zusammenhang meine Person erfaßt und zu mir sagt: ‚Wir Juden’ – fühle ich ein nicht gerade quälendes, aber doch tiefsitzendes Unbehagen.“ (Amery 2004, S 130).

Im Jahre 1985 besuchte ich einen Kibbuz in Israel. 80 Prozent der Bewohner waren nicht religiös; die meisten betrachteten sich als Teil eines Volkes und befolgten die jüdische Tradition aufgrund des Gefühls der Verbundenheit mit der Jahrtausende alten Geschichte und kulturellen Tradition der Juden. Da viele schon vor der Gründung Israels im Jahre 1948 nach Palästina gekommen waren, knüpften sie ihre jüdische Identität sehr eng an ihr Leben in Israel. Sie konnten kaum verstehen, dass es Juden gab, die – gerade nach dem Holocaust – nicht in Israel leben wollten. Manche hatten alle Kriege gegen die Araber in der Überzeugung mitgemacht, eine Heimat für alle Juden zu schaffen, damit ein Holocaust nie mehr geschehen könne. Ich hatte den Eindruck, dass sie es den Juden in der Diaspora unausgesprochen Übel nahmen, wenn diese nicht nach Israel gingen. Obwohl ich freundlich empfangen wurde, merkte ich eine unterschwellige Zurückweisung und spürte dadurch ein Unbehagen, eine Verunsicherung, ja fast Schuldgefühle. Peinlich berührt war ich über die vorwurfsvoll an mich gerichtete Frage, wie meine Eltern und ich ausgerechnet nach Deutschland gehen konnten. Ich fühlte mich diesen Menschen im Kibbuz einerseits zugehörig – und zugleich auch wieder nicht.

Im selben Jahr, während meiner Hochzeitsreise, besuchte ich Jerusalem zur Zeit des höchsten jüdischen Feiertages, Jom Kippur, der Versöhnungstag. Ein Spaziergang durch das orthodoxe Viertel Jerusalems mea shearim mutete gespenstisch an. Meine Frau und ich durchquerten die völlig menschenleeren Straßen mit einem unheimlichen Gefühl. Ich hatte Angst. Dabei befand ich mich unter „meinesgleichen“, unter Juden. Ich fühlte mich hier sehr fremd. Ich war froh als wir den Weg aus diesem undurchsichtigen und für mich sich feindselig anfühlenden Labyrinth fanden und uns „draußen“ wieder „in Sicherheit“ fühlen konnten.

Der anschließende Besuch an der Klagemauer, nach Erscheinen des ersten Sternes, amüsierte und verwirrte mich zugleich: Im abgesperrten Bereich unmittelbar an der Klagemauer sah ich das bekannte Bild der leidenschaftlich in ihr Gebet vertieften orthodoxen Juden; nur wenige Meter entfernt saßen in einem anderen – für jedermann frei zugänglichen – Bereich Jugendliche mit Ghettoblastern auf den Mauern und unterhielten sich, sangen oder tanzten zur lauten Musik, völlig unbeeindruckt von den betenden Menschen. Dieser Gegensatz ließ mich sprachlos zurück.

Jean Amery, der 1912 in Österreich geboren wurde und keine jüdische Erziehung genoss, was ihm aber Verfolgung, Folter und KZ nicht ersparte, reflektiert in seinem Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel Über den Zwang und die Unmöglichkeit, Jude zu sein seine jüdische Identität folgendermaßen: „Wenn Jude sein heißt, mit anderen Juden das religiöse Bekenntnis zu teilen, zu partizipieren an jüdischer Kultur- und Familientradition, ein jüdisches Nationalideal zu pflegen, dann befinde ich mich in aussichtsloser Lage. Ich glaube nicht an den Gott Israels. Ich weiß wenig von jüdischer Kultur. Ich sehe mich, einen Knaben, Weihnachten zur Mitternachtsmette durch ein verschneites Dorf stapfen; ich sehe mich in keiner Synagoge. Ich höre meine Mutter Jesus, Maria und Josef ausrufen, wenn kleines häusliches Unglück sich ereignete; ich höre keine hebräische Beschwörung des Herrn. Das Bild des Vaters [...] zeigte mir keinen bärtigen jüdischen Weisen, sondern ein Tiroler Kaiserjäger in der Uniform des ersten Weltkrieges. Ich war neunzehn Jahre alt, als ich von der Existenz einer jiddischen Sprache vernahm, wiewohl ich andererseits genau wußte, daß meine religiös und ethnisch vielfach gemischte Familie den Nachbarn als eine jüdische galt und niemand in meinem Hause daran dachte, das ohnehin Unverschleierbare ableugnen oder vertuschen zu wollen. [...] Meinte also Jude sein einen kulturellen Besitz, eine religiöse Verbundenheit, dann war ich keiner und kann niemals einer werden. Freilich, es ließe sich einwenden, daß Besitz sich erringen, eine Bindung sich eingehen läßt und daß demnach Jude sein die Sache sein könnte eines freien Entschlusses. Wer würde mich wohl daran hindern, die hebräische Sprache zu erlernen, jüdische Geschichte und Geschichten zu lesen, auch ohne Glauben teilzunehmen an dem zugleich religiösen und nationalen jüdischen Ritual? Ich könnte, wohlversehen mit aller gebotenen jüdischen Kulturkenntnis von den Propheten bis zu Martin Buber, nach Israel auswandern und mich Jochanaan nennen. Ich habe die Freiheit, mich als einen Juden zu wählen, und sie ist meine ganz persönliche und allgemein menschliche Ehre. So wird mir versichert. (Amery 2004. S. 131f.).

Amery erkannte, dass er unausweichlich zu einem Juden gemacht wurde, „...als ich 1935 in einem Wiener Cafe über einer Zeitung saß und die eben drüben in Deutschland erlassenen Nürnberger Gesetze studierte. Ich brauchte sie nur zu überfliegen und konnte schon gewahr werden, daß sie auf mich zutrafen. Die Gesellschaft, sinnfällig im nationalsozialistischen deutschen Staat, den durchaus die Welt als legitimen Vertreter des deutschen Volkes anerkannte, hatte mich soeben in aller Form und mit aller Deutlichkeit zum Juden gemacht, beziehungsweise sie hatte meinem früher schon vorhandenen, aber damals nicht folgenschweren Wissen, daß ich Jude sei, eine neue Dimension gegeben.“ (Amery 2004, S. 133-134).

Das Jüdische als Identität


Ist das „Jüdische“ eines Menschen, der dem Judentum angehört, zwangsläufig auch Bestandteil seiner Identität?
Identität leitet sich vom lateinischen idem, derselbe, der gleiche, ab. Im Brockhaus wird Identität definiert als „die völlige Übereinstimmung einer Person oder Sache mit dem, was sie ist oder als was sie bezeichnet wird“.

Erikson sprach von der persönlichen (Ich-)Identität, die unmittelbar an der Wahrnehmung der „Gleichheit und Kontinuität in der Zeit“ gekoppelt ist, sowie an der Wahrnehmung, „dass auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen“. (Erikson 1973, S. 18).

Wenn man von diesen sehr allgemein gefassten Definitionen ausgeht, dann erhebt sich die Frage, ob Amerys Jude sein als Bestandteil seiner „Identität“ betrachtet werden kann. Wenn ihm sein Bekenntnis zum Judentum, das er bis 1935 nicht als sein Eigenes betrachtet hatte, Kraft Gesetz – eben durch die so genannten Nürnberger Gesetze – aufgezwungen wurde, dann kann dieses Jude sein nicht mit Amerys Übereinstimmung mit sich selbst gestanden haben. Denn diese Bestimmung ergab sich aus einer Zwangslage; es war eine Fremdbestimmung, ohne die er sich vermutlich niemals als „Jude“ gefühlt hätte.

Die Entwicklung der Identität, im Sinne einer Übereinstimmung mit dem, was man ist, kann kaum anders vorgestellt werden als das Ergebnis eines selbstbestimmten Prozesses, der das Sein der betreffenden Person in Wechselwirkung mit der Umgebung, in der sie sich befindet, aus den Anlagen und Möglichkeiten dieser Person – das heißt: aus sich selbst heraus – hervorbringt.

Wie verhält es sich demnach mit der Identität eines Juden, dem – anders als im Falle Amerys – schon in der Kindheit die Befolgung jüdischen Glaubens sowie jüdischer Sitten und Gebräuche durch die Unterwerfung unter das religiöse und sittliche Diktat der Eltern aufgezwungen worden ist? Kann die jüdische Lebenshaltung eines Menschen, die sich unter solchen Voraussetzungen entwickelt, als Übereinstimmung mit dem, was er ist, gesehen werden? Oder handelt es sich hier nicht vielmehr um die Entwicklung eines falschen Selbst im Sinne Winnicotts, das dadurch zustande kommt, dass nicht die empathische Wahrnehmung und Spiegelung des Eigenlebens des Kindes Grundlage für die Eltern-Kind-Beziehung ist, sondern abstrakte Vorgaben religiöser Ideologie diese Beziehung bestimmen? Ein solches Selbst hat, nach Winnicott, lediglich Abwehrfunktion, um „das wahre Selbst [das nicht gelebt werden durfte – P. P-W.] zu verbergen und zu beschützen“. (Winnicott 2002. S. 185).

Arno Gruen spricht von einer falschen Identität oder Nicht-Identität, d. h. von einer Identität, bei der sich das Eigene nicht entfalten und man sich auch „nicht an eigenen inneren Prozessen“ orientieren kann, man sich vielmehr „am Willen einer Autorität“ ausrichten muss. (Gruen 2001, S 24.). Er definiert Identität als „eine grundlegende Konstellation von immanenten Persönlichkeitsmerkmalen“ (S. 27). Wenn einem Kind eine bestimmte religiös-ideologische Richtung aufgedrückt wird, wie können dann seine immanenten Persönlichkeitsmerkmale zur Entfaltung kommen?

In der Psychoanalyse wird Identität auch als Ergebnis der Identifikationen des Kin- des mit den Eltern verstanden. Vamik Volkan schreibt: „Nach unserem heutigen Verständnis gehen wir davon aus, daß die Entwicklung des Sich-Selbst-Gleichseins (Identität) auf die Internalisierung früher Objektbeziehungen, der Entwicklung einer Objektkonstanz basiert.“ (Volkan 1999, S. 38)

Demnach wäre die jüdische Lebensorientierung eines Menschen das Resultat seiner frühen verinnerlichten Objektbeziehungen, das heißt der jüdischen Haltung der Eltern. Allerdings sollte hier zwischen den Identifikationen, die das Kind im Kontext einer liebevollen und sein Eigenleben annehmenden Eltern-Kind-Beziehung voll- zieht, und den Identifikationen, die unter Zwang zustande kommen, unterschieden werden. Erstere vollzieht das Kind selbstbestimmt, das heißt sich primär an den eigenen inneren Prozessen orientierend; sie geschehen in erster Linie im Interesse der autonomen Selbstentwicklung des Kindes und können zur Quelle von Kreativität und Lebenswillen werden. Letztere dagegen entstehen aus dem Zwang zur Unterwerfung unter die Erwartungen der Eltern, die das Eigene des Kindes zurückweisen. Das Kind identifiziert sich dann instinktiv mit den Aspekten der Eltern, die es mit deren Vorgaben konform machen; sie dienen hauptsächlich der Erfüllung dessen, was die Eltern aus dem Kind machen wollen und werden dem Kind unter Androhung von Bestrafung „aufgezwungen“. Dementsprechend bleiben sie affektiv an Angst gebunden und erzeugen inneren Terror. Hierbei handelt es sich nach Arno Gruen um Identifikation mit dem Aggressor. Solche Identifikationen können zu Starrheit und Intoleranz gegenüber anders denkenden Menschen führen.

Für die Frage, ob das „Jüdische“ als Teil der Identität eines Menschen verstanden werden kann, scheint also von Bedeutung zu sein, ob die Integration der jüdischen Lebenseinstellung in das Selbst des Kindes im Zuge eines Entwicklungsprozesses geschieht, aus dem ein autonomes Selbst hervorgeht, oder ob sie unter dem Zwang zur Identifikation mit Eltern zustande kommt, die das Kind in der Hauptsache als Aggressoren erleben musste.

Vamik Volkan bringt die individuelle Identität eines Menschen in Verbindung mit seiner Zugehörigkeit zur Großgruppe, indem er zwischen der Kernidentität und der Großgruppenidentität unterscheidet. Letztere definiert er als „subjektive Erfahrung von Tausenden oder Millionen von Menschen, die durch ein dauerndes Gefühl des Gleichseins miteinander verbunden sind, während sie gleichzeitig auch viele Charakteristika mit anderen fremden Gruppen teilen“ (Volkan 1999, S. 48). Demnach wäre das „Jüdische“ Teil der Großgruppenidentität. Das Gefühl des Gleichseins miteinander kommt – unter anderem – durch gemeinsame psychische Repräsentanzen von Ereignissen zustande, die die Großgruppe betroffen haben. Solche Ereignisse können, nach Volkan, Heldentaten sein; es können aber auch Ereignisse sein, die mit demütigenden Verletzungen und dem Gefühl von Hilflosigkeit einhergehen.

Solche Ereignisse werden als gewählte Ruhmesblätter oder gewählte Traumata zu „Markern“ der Großgruppenidentität (Volkan 1999). In diesem Sinne wurde der Holocaust zum gewählten Trauma für das jüdische Volk, das seine Identität als Großgruppe prägte.

„Jüdisch sein“ bei Überlebenden und deren Nachkommen


Jüdisch sein ist für die Überlebenden und für deren Nachkommen unmittelbar gekoppelt an den Holocaust. Für die Überlebenden war der Holocaust eine „Katastrophe ohne Logik“ (David Reusmann in: Johannes Pfäfflin: unveröffentlichtes Manuskript), die tiefe, schmerzliche, unheilbare Wunden hinterließ, Schädigungen an Körper und Seele als Folge des unbeschreiblichen Leides, dem diese Menschen über Jahre ununterbrochen ausgesetzt waren. Sie erlebten kaum bewältigbare Trauer, verbunden mit dem unstillbaren Schmerz der Verluste ihrer liebsten Menschen: Kinder, Eltern, Geschwister, Verwandte, Freunde. Und sie blieben sehr einsam zurück; nicht nur, weil sie zum Teil keine Angehörige mehr hatten und oftmals Heimat und Besitz verloren, sondern auch, weil sie kaum geeignete Worte fanden, um das zu beschreiben, was ihnen in den albtraumartigen Jahren der Verfolgung widerfahren war. Das Alleinsein mit dem Schmerz war vermutlich das Schlimmste.

Die meisten der Betroffenen konnten kaum mit dem unvorstellbaren Ausmaß an erlebtem Leid fertig werden. Sie gaben es daher auf unterschiedliche Weise an ihre Kinder weiter, die zum Symbol für die „Rückkehr ins Leben“ wurden. Die Kinder sollten ihnen die Kraft zum Weiterleben und so ihrem Leben wieder einen Sinn geben. Nicht selten wurden die Neugeborenen auch mit dem Wunsch belegt, verlorene Angehörige, insbesondere verlorene Kinder, zu ersetzen. Über die Kinder versuchten die Überlebenden den Glauben an das Menschliche wieder zu gewinnen. Sie rangen gerade wegen der schlimmen Erfahrungen, die sie gemacht hatten, darum liebende Eltern zu sein. Doch daran hinderten sie in verhängnisvoller Weise ausgerechnet ihre schmerzlichen Verwundungen, denn sie überfrachteten ihre Kinder oftmals mit (unbewussten) Erwartungen, die die Kinder natürlich nicht erfüllen konnten.

Die Überlebenden waren so stark von ihrem Schmerz besetzt, dass sie die dem Kind eigene Lebendigkeit, dessen Bedürfnisse und Nöte, vielfach nicht ausreichend wahrnehmen konnten. Häufig wurden die Kinder so unbewusst dazu gezwungen, sich emotional um ihre Eltern zu kümmern. Unter diesen Bedingungen konnte sich bei vielen Kindern kein ausreichend autonomes Selbst entwickeln. Die Kinder spürten, dass die Eltern ihren Schmerz nicht verarbeiten konnten, und blieben gerade deshalb an sie gebunden. Denn Loslösung hätte bedeutet, die Eltern ihrem Schmerz hilflos zu überlassen. Die unheilbar verwundeten Eltern mussten daher ein Leben lang „getragen“ werden.

Das Erbe des Holocaust wurde den Kindern der Überlebenden auf diese Weise mit großer emotionaler Heftigkeit aufgezwungen. Der Niederschlag der Erinnerung an ihn war in den Seelen der Nachkommen an die unverarbeiteten Gefühle der Überlebenden-Eltern gebunden, die diese in den Kindern gleichsam „deponierten“. So wurde der Holocaust für die Kinder zu einer seelischen Realität, die sich anfühlte, als wäre sie von ihnen leibhaftig erlebt worden. Der Holocaust und das Leid der Eltern wurden auf diese Weise zum Bezugspunkt des Lebens der Kinder. Denn für ein Kind Überlebender-Eltern ist es oft schwer vorstellbar gewesen, ein Leben um einen anderen Mittelpunkt als den des Holocaust zu entfalten. So wurde dieses traumatische historische Ereignis zu einem „Marker“ jüdischer Identität nicht nur für die Überlebenden, sondern auch für deren Nachkommen.

B) Die Auswirkungen des Holocaust auf meine Entwicklung und auf meine jüdische Identität


Mein Jüdisches Identitätsdilemma


Mein Leben wurde von zwei bedeutsamen geschichtlichen Ereignissen geprägt. Das eine, das ich als zweijähriges Kind erlebte, war der Aufstand in Ungarn 1956. Dieses Ereignis führte dazu, dass ich meine erste Heimat verlassen musste und, nach einer abenteuerlichen Flucht, mit meinen Eltern in Chile eine neue Heimat fand. Das andere lebensbestimmende Ereignis war der Holocaust, den ich selbst nicht durchmachen musste. Aus heutiger Perspektive meine ich aber, dass mich der Holocaust paradoxerweise weit mehr und nachhaltiger bestimmt hat als die Flucht und der Verlust der ersten Heimat. Denn die Flucht aus Ungarn war, auch wenn ich mich an sie nicht bewusst erinnern kann, für mich doch – anders als der Holocaust – ein reales und sehr konkretes Erlebnis, das ich mit meinen Eltern teilte konnte. Und so konnte ich diesen Verlust auch besser betrauern.

Mit dem Holocaust verhielt es sich ganz anders. Vom Holocaust hatte ich kein Engramm, keine bleibende Erinnerungsspur, mit der mein Gehirn die Informationen, die mir von frühester Kindheit an, verbal und nonverbal, bewusst und unbewusst, von meinen Eltern und Großeltern vermittelt wurden, in Beziehung hätte setzen können. Sie schwebten daher frei flottierend und ohne Beziehung zum Eigenen in meinem Hirn und fanden keinen Anschluss an eigene Gedächtnisspuren. Da sie aber Träger heftigster Gefühle waren, konnte der emotionale Eindruck, den sie in meiner kindlichen Seele erzeugten, kaum von dem Eindruck unterschieden werden, den Selbst-Erlebtes hinterließ. Mein kindliches Gehirn konnte, in Ermangelung einer ausgereiften Realitätsprüfung, also nicht eindeutig unterscheiden, ob das, was meine Eltern mir über den Holocaust vermittelten, aus meinen unmittelbaren Erfahrungen oder aber aus ihren Erlebnissen stammte. So empfand ich den Holocaust als Eigenes und Fremdes zugleich: er gehörte zu mir – und war doch auch wieder nicht Teil von mir.

Die emotionale Verwirrung, die allein dieser Umstand erzeugte, wurde noch dadurch vergrößert, dass ich schon früh glaubte, etwas zur Entlastung der unangenehmen oder bedrohlichen Gefühle meiner Eltern, die ich nicht immer von meinen eigenen Gefühlen unterscheiden konnte, tun zu müssen. Wenn zum Beispiel meine Mutter bei relativ nichtigen Gefahren im Alltag panisch wurde und eine Stimmung verbreitete, als sei gerade eine Katastrophe geschehen, dann überkam mich Angst, ohne dass ich eine passende reale Quelle der Gefahr hätte ausfindig machen können, die das Ausmaß der Angst erklärt hätte. Instinktiv fühlte ich die Notwendigkeit meine Mutter und dadurch auch mich selbst zu beruhigen. Nur wusste ich meistens nicht wie. So wurde das Gefühl der Angst für mich zu einer bedrohlichen, unkontrollierbaren Gefahr.

Das unbewältigte Leid, die Trauer und der Schmerz meiner Eltern, sowie ihre Ängste wurden zum Bestand meiner inneren Wirklichkeit, und nahmen einen nicht unerheblichen Raum in meinem kindlichen Seelenleben ein. Der Holocaust war wie ein Gespenst, das sich nicht verjagen ließ, weil es sich allzu wirklich anfühlte. Indem meine Eltern schon sehr früh den Holocaust in mir „einpflanzten“, drückten sie mir das Siegel des Jüdischen unauslöschlich auf. Ihre frühe, aber vor allem verborgene Botschaft hieß: Du sollst Jude sein, weil wir Überlebende sind. Allein das Leid, das sie durchlebt hatten, ließ ihnen keine andere Wahl, als mich zum Juden zu machen. Sie konnten weder ihre Qualen verleugnen noch ihre geliebten Toten verraten. Doch gerade das Erlittene war wiederum verantwortlich dafür, dass sie ihr Jüdisch sein zugleich als einen gefährlichen „Makel“ erlebten, der besser nicht öffentlich gezeigt werden sollte. Meine Eltern wollten gerade wegen des am eigenen Leib erlebten Opferseins verhindern, dass ihre Kinder jemals aufgrund ihres Judeseins ein ähnliches Schicksal wie das ihre erdulden sollten. Indem sie auf meine Beschneidung verzichteten, trugen sie mir schon bei meiner Geburt auf, mein Jüdischsein lieber „geheim“ zu halten. Niemand sollte mich an diesem äußerlichen Zugehörigkeitsmerkmal erkennen. Es gab also eine zweite – im Wesentlichen offen vermittelte – Botschaft: Gebe dich nicht als Jude zu erkennen, damit du niemals Benachteiligung oder Verfolgung erleiden musst. Wäre es nach dem Wunsch meiner Eltern gegangen, dann hätten sie ihr Jüdisch sein wie eine Haut von sich abgestreift, um sie durch eine andere, in ihren Augen weniger stigmatisierende, zu ersetzen. Ich sollte Jude sein, mich aber nicht als solcher zu erkennen geben. Diese Widersprüchlichkeit prägte schon sehr früh mein Verhältnis zum Judentum, das bis heute ambivalent geblieben ist. Ich kann nicht leugnen, dass ich noch heute einen Anflug von Angst, begleitet von einem mulmigen Gefühl in der Magengegend verspüre, wenn ich mich als Jude zu erkennen gebe. Wenn ich es aber verschweige, quälen mich Gewissensbisse.

Stolpersteine


Anm.: Stolpersteine sind kleine Steine aus Messing, die als Erinnerungsmale vor den Häusern der im Zuge des Holocaust deportierten Menschen verlegt werden. Sie tragen den Namen des Betroffenen sowie Geburts-, Todesdatum und -ort, sofern bekannt. Es ist ein inzwischen europaweites Kunstprojekt des Künstlers Gunter Demnig.

Im August 2008 ließen mein Bruder und ich zwei Stolpersteine im Gedenken an unsere ermordeten Großeltern – Pogany Miklós und Erzsébet – vor dem Haus an der Rakoczi ut. 68 in Budapest, verlegen. Dies war zugleich das Haus, in dem ich am 15. November 1954 geboren wurde.

Die Auseinandersetzung mit meiner Familiengeschichte, die ich im Zusammenhang mit der Verlegung der Stolpersteine intensiv geführt habe, half mir zu betrauern, was ich selbst nicht erlebt habe, was aber dennoch unmittelbare Auswirkungen auf die Entwicklung meiner Persönlichkeit, den Verlauf meines Lebens und auf meine Beziehung zum Judentum hatte.

Heute fühle ich mich hauptsächlich durch das Schreckliche, das meinen Eltern, Großeltern und dem gesamten jüdischen Volk widerfahren ist, unlösbar an das Judentum gebunden. Obwohl ich mich keineswegs von der Religion angezogen fühle, und ich auch keine Veranlassung sehe, die traditionellen jüdischen Feste zu feiern, habe ich nicht die Wahl, mich für oder gegen zu entscheiden. Meine Würde erlaubt es mir nicht, meine jüdische Zugehörigkeit abzulegen. Eine Abkehr vom Judentum, die mir als selbst bestimmter Mensch unter anderen Umständen zugestanden hätte, käme mir wie eine Zustimmung oder Hinnahme der von den Tätern begangenen Morde vor. Es würde bedeuten, sie von der ungeheuerlichen Schuld, die sie auf sich geladen haben, zu entlasten. Es hieße auch, meine Eltern mit ihrem Schmerz und mit ihrer Trauer alleine zu lassen und die geliebten Toten aus der Erinnerung zu löschen, so als hätten sie niemals gelebt. In Anbetracht dieser Verantwortung, die ich für meine persönliche wie für die allgemeine Geschichte der Juden empfinde, müsste ich mit der Abkehr vom Judentum den Verlust meiner Selbstachtung in Kauf nehmen. Ich muss Jude sein und bleiben, weil ich die Folgen des Holocaust in mir trage und weil ich die Pflicht und die Verantwortung verspüre, mich diesen Folgen zu stellen. Der Schmerz meiner Überlebenden-Eltern, der Mord an meinen Großeltern und der Gedanke an die Millionen unschuldigen Toten, bringen mich als Angehöriger der zweiten Generation in das Dilemma Jude sein zu müssen, ohne es wirklich sein zu können.

Die Verlegung der Stolpersteine machte mir bewusst, dass der Holocaust mich nicht nur mittelbar, über das Leid meiner Eltern, sondern auch ganz unmittelbar betroffen hat. Ich habe durch den Holocaust eigene Verluste erlitten noch bevor ich geboren wurde. Wesentliche Teile meiner Familie wurden ermordet. Der Verlust meiner Großeltern war nur einer dieser schmerzlichen Verluste. Diese Erkenntnis machte mir den eigenen Schmerz, den ich ein Leben lang unbemerkt in mir trug, spürbar. Bislang kannte ich nur den Schmerz meines Vaters, den ich als Kind empathisch wahrgenommen und zu meinem eigenen gemacht hatte. Der Schmerz meines Vaters hatte sich immer wie eine schwere bedrückende Last, die ich nicht abwerfen konnte, angefühlt. Der eigene Schmerz dagegen fühlte sich merkwürdig befreiend an. Mir wurde klar, dass mein unermüdliches kindliches Bemühen, meinem Vater seinen Schmerz nehmen zu wollen, weder notwendig war noch zum Erfolg hätte führen können, denn durch diesen Schmerz hielt mein Vater vermutlich die emotionale Verbindung zu seinen ermordeten Eltern aufrecht. Jetzt kann ich ihm seinen Schmerz lassen. Was er brauchte, war Mitgefühl. Bedauerlicherweise konnte ich dieses Mitgefühl erst entwickeln, als er schon tot war.

Am Tag nach der Stolpersteinverlegung gingen meine Frau, meine Tochter und ich entlang der Donau spazieren. In unmittelbarer Nähe zum Parlament hat ein Künstler metallene Schuhe im Gedenken an die unzähligen Menschen, die am Donauufer erschossen wurden, nebeneinander aufgereiht. Sie bieten einen gespenstischen Anblick, der an das Grauen erinnert. Ich stellte mir vor, dass zwei Paar Schuhe meinen Großeltern gehört haben könnten. Der Anblick dieses Denkmals und die sehr lebendige Vorstellung der erbarmungslosen Erschießungen ließen in mir Hass auf die Täter aufkommen: Hass für das ungeheuerliche Leid, das sie nicht nur meinen Eltern, Großeltern und meiner restlichen Familie zugefügt haben, sondern auch millionenfach anderen Familien und schließlich der gesamten Menschheit. Es ist dies kein Hass, der nach Rache verlangt; vielmehr empfinde ich ihn als eine Kraft in mir, die mich fortwährend ermahnt die Erinnerung wach zu halten und das Unmenschliche nicht hinzunehmen.

Gerne hätte ich gemeinsam mit meinem Vater die Stolpersteine in Gedenken an seine Eltern verlegen lassen. Doch leider starb er schon 1994. Ich weiß nicht einmal, ob er sie auch gewollt hätte.

Krieg und Holocaust im Leben meiner Eltern und in meiner Kindheit


Während meiner Kindheit in Chile wurde mir das Erleben des Holocaust über das wiederholte Erzählen zweier stereotyper Geschichten nahe gebracht. Sie erfüllten eine doppelte Funktion: Durch sie wurde mir einerseits die Erfahrung des Holocaust vermittelt, andererseits verschleierten sie aber auch die Einzelheiten des Erlebten. Vermutlich haben sich meine Eltern durch die Verschleierung vor dem allzu großen Schmerz geschützt, der die Erinnerung des Horrors in allen Einzelheiten in ihnen ausgelöst hätte.

Die eine Geschichte löste immer eine kaum erträgliche Schwere aus. Wenn sie erzählt wurde, dann erstarrte alles in Trauer und Fassungslosigkeit. In ihr verdichteten sich die Gefühle der lähmenden Ohnmacht eines unermesslichen Leides. Wenn ich sie hörte, fühlte ich als Kind ein seltsames Gefühl von Verlegenheit und Hilflosigkeit. Ich spürte sogar Schamgefühle, weil es mir nie gelang der Situation das Peinliche, das sie erzeugte, zu nehmen, wozu ich mich aufgefordert fühlte. Sie handelte von der Ermordung meiner Großeltern: Sie gingen an jenem Morgen – entgegen dem Rat eines Bekannten, der sie ermahnt hatte zu Hause zu bleiben, weil die Rote Armee dabei sei Budapest zu besetzen – wie gewöhnlich in das Militärkrankenhaus, in dem sie arbeiteten. Mein Großvater war Arzt und wollte seine Patienten nicht im Stich lassen. Meine Großeltern kamen nie wieder zurück. Sehr wahrscheinlich wurden sie, wie unzählige andere Juden, am Ufer der Donau erschossen. Die Geschichte, so wie sie erzählt wurde, suggerierte zweierlei: Zum einen, dass meine Großeltern am Leben geblieben wären, wenn sie auf den Rat des Bekannten gehört hätten. Ich erinnere mich, dass ich als Kind sogar Wut auf ihre „Leichtsinnigkeit“ verspürte. Zum anderen erzeugte die Geschichte aber auch den Eindruck eines „heldenhaften“ Todes.

Die andere Geschichte, die erzählt wurde, hörte sich wie eine Abenteuer- oder Heldengeschichte an. Sie erzählte vom Überleben meiner Mutter, gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester und ihren Eltern, dank der Geschicklichkeit meines Großvaters, eines mutigen Mannes, dem es gelang, seine Familie zu retten. Statt der Aufforderung der Nazis nachzukommen, sich an einen Sammelplatz für Juden zu begeben, entschied er sich dafür, mit seiner Familie aufs Land zu fliehen. Es war eine Geschichte mit einem „Happy-end“; nichts an ihr mutete tragisch oder erschreckend an. Sie löste eher Erleichterung aus und vermittelte mir den Eindruck als sei das Überleben ausschließlich eine Frage des Mutes, des Geschicks und des Willens gewesen.

Als meine Mutter im Juni 1944 aus Budapest flüchtete, war sie gerade 13 Jahre alt. Ihre Überlebensgeschichte war jedoch alles andere als eine „Abenteuergeschichte mit Happy-end“. Sie war in Wirklichkeit eine Geschichte des Grauens und des Horrors, die dazu geführt hat, dass meine Mutter für den Rest ihres Lebens mit Angst und betäubtem Schmerz gezeichnet war, denn sie hatte ihre Kindheit als jahrelange Bedrohung erlebt, zu der die Benachteiligung der Juden durch Antisemitismus und antijüdische Gesetze, der Einmarsch der Deutschen, die Bombardierung Budapests durch die Alliierten und schließlich die Flucht aufs Land mit falschen Papieren gehörten, die notwendig war, um der Deportation zu entkommen. Meine Mutter war monatelang auf der Flucht, von einem Versteck zum anderen, immer in Todesangst wegen der Gefahr, denunziert oder entdeckt zu werden. Um sie herum tobte ein grauenhafter Krieg, in dessen Verlauf die Rote Armee in Ungarn immer weiter einrückte. Schließlich verdankt meine Mutter ihr Überleben nicht allein dem „Geschick“ ihres Vaters, sondern zu einem nicht unerheblichen Teil auch dem Glück und dem Zufall.

Als die deutsche Wehrmacht Ungarn besetzte, war mein Vater noch keine achtzehn Jahre alt. Kurz nach der Besetzung beendete er das Gymnasium. Im Juni 1944 wurde er als Zwangsarbeiter in die Kupfermine im serbischen Bor deportiert. Nach vier Monaten wurde er von Partisanen befreit und kehrte – größtenteils zu Fuß – nach Budapest zurück. Als er dort ankam, lebten seine Eltern schon nicht mehr. Nur seine Großmutter hatte überlebt. Den Tod seiner Eltern hat er nie überwunden. In ihm blieb ein unheilbarer Schmerz zurück. Sein Cousin berichtete mir von einem gemeinsamen Spaziergang im Januar 1945, kurz nachdem mein Vater aus Bor zurückgekommen war. An einer Donaubrücke blieb mein Vater stehen und schaute suchend auf die im auftauenden Wasser an einem Pfeiler hängen gebliebenen Leichen: „Vielleicht sind meine Eltern auch zwischen diesen Körpern“, sagte er. Der Cousin fragte: „Warum denkst du das?“ – „Ich habe nachgeforscht und das ist leider das Wahrscheinlichste“, antwortete mein Vater.

Kindliche Bemühungen um meine Eltern


In meiner Kindheit hatte ich das Gefühl eines stillen Einvernehmens mit meinem Vater. Er war ein eher schweigsamer Mann mit einem traurigen Gesicht, das in mir ebenfalls Trauer erzeugte. Ich spürte seine unheilbaren Verletzungen und tat instinktiv mein Möglichstes, um ihn zu „heilen“. Ich bemühte mich darum ein „gutes“ Kind zu sein. Meinem Vater Freude zu bereiten hieß in meiner kindlichen Phantasie: seine Schmerzen zum Verschwinden zu bringen. Und doch blieb auch immer eine unüberwindbare emotionale Kluft zwischen uns bestehen. Innig mit ihm verbunden fühlte ich mich, wenn wir gemeinsam zum Fußball gingen. Er war ein Fußballnarr und verwandelte sich in einen leidenschaftlichen Menschen, wenn er so für neunzig Minuten seinen Gefühlen freien Lauf lassen konnte. Später, als ich selbst in einem Verein spielte, war er mein treuester Anhänger. Die gemeinsamen Fußballspiele waren für mich wie Oasen des Glücks mit meinem Vater.

Gegenüber meiner Mutter übernahm ich als Kind instinktiv die Rolle des „Beschwichtigers“, um nicht nur sie, sondern auch mich selbst zu beruhigen, wenn aus Harmlosigkeiten des Alltags „Katastrophen“ wurden. Tief in ihrem Inneren hatte der Schrecken, den sie in jungen Jahren erleben musste, Spuren der Verwundung und eine große Angst hinterlassen, die sie durch ihr temperamentvolles und nach außen sehr selbstbewusst wirkendes Auftreten zu verbergen wusste. Sie versuchte alles, mich eingeschlossen, unter Kontrolle zu bekommen, so als ließe sich dadurch verhindern, dass das Leben noch einmal, wie während des Krieges und des Holocaust, außer Kontrolle geraten könnte. Ich kann mich nicht daran erinnern, bei meiner Mutter jemals offene Trauer oder Schmerz wahrgenommen zu haben. Als Kind war ich eng an sie gebunden, und ich spürte empathisch ihre emotionale Bedürftigkeit. Sie vermittelte mir das Gefühl mich als emotionale Stütze zu brauchen. Durch ihr vereinnahmendes Wesen waren die Räume, in denen ich mein Eigenes entwickeln konnte, sehr eingeschränkt, was später, während der Loslösung von ihr, zu starken aggressiven Auseinandersetzungen führte.

Meine Mutter hat nie in Einzelheiten über ihre leidvollen Kriegs- und Verfolgungserlebnisse gesprochen. Sie wollte am liebsten vergessen. Durch den Eindruck, den ich als Kind gewonnen hatte, es habe sich bei der Geschichte meiner Mutter um eine „Heldengeschichte“ mit gutem Ausgang gehandelt, blieb mir der Blick auf das, was sie in Wirklichkeit erlebt hat, lange Zeit versperrt. Erst nach dem Tod meiner Mutter im März 2004, und insbesondere nachdem mir ihre Schwester 2009 ausführlicher über die Kriegszeit berichtet hatte, ist mir das unermessliche Leid, das meine Mutter durchleben musste, sichtbar geworden.

Erstes Aufkeimen rebellischer Gedanken


Ich bin weder religiös noch im Geiste der jüdischen Tradition erzogen worden. Wir feierten sogar Weihnachten, damit wir Kinder „Geschenke, wie andere Kinder“ bekommen konnten. Dennoch bewegten wir uns in Chile, wo ein Großteil der Familie meiner Mutter lebte, überwiegend in jüdisch-ungarischen Kreisen. Die Synagoge habe ich selten besucht.
In der Pubertät ging ich regelmäßig zu einer zionistisch-jüdischen Jugendorganisation, Maccabi Hatzair, bei der ich mich im Laufe der Zeit stärker engagierte, als es meinen Eltern lieb war. Aber sie verboten mir dieses Engagement nicht. Das meiste, was ich über das Judentum und über Israel damals wusste, erfuhr ich in dieser Gruppe. Ich traf dort junge und erwachsene Juden, die stolz waren, jüdisch zu sein, was für mich neu war und mich sehr beeindruckte. Ich lernte hier eine Haltung gegenüber dem Judentum kennen, die der, die mir meine Eltern vermittelt hatten, völlig entgegengesetzt war. In der Schule wurde ich einige Male von Mitschülern als Jude beschimpft. Es kam auch vor, dass auf jüdische Einrichtungen Bombenanschläge verübt wurden, vor allem während und in Folge der israelisch-arabischen Kriege. Während meine Eltern mich eher dazu aufgefordert hatten, zu schweigen und mich zu „verstecken“, wurde mir in der Gruppe beigebracht, mich zur Wehr zu setzen, und zwar auch mit Gewalt, wenn es denn sein musste.

Diese neue Haltung gegenüber dem Judentum brachte mich in Konflikte mit der Haltung, die mir meine Eltern beigebracht hatten. Der Gedanke, dass Jude sein etwas mit Heldentum und mit Mut zu tun haben könnte, übte in der Zeit der Pubertät und des Heranwachsens eine starke Faszination auf mich aus. Damals regten sich in mir erste kritische Gedanken und aggressive Gefühle gegenüber der Haltung meiner Eltern, die zum Keim meiner späteren Protesthaltung ihnen gegenüber wurden. Ich behielt sie aber für mich, denn zu diesem Zeitpunkt verhielt ich mich gegenüber meinen Eltern als ein äußerlich angepasstes Kind. Mir ist damals allerdings nicht in den Sinn gekommen, mir vorzustellen, dass meine Eltern genau in meinem damaligen Alter Krieg und Verfolgung erleiden mussten.

Offene Rebellion


Im September 1970, als meine jugendliche Protesthaltung Konturen anzunehmen begann, verließen wir Chile, um „ausgerechnet“ nach Deutschland zu kommen. Hier brach der Protest aus mir heraus. Mein Vater hatte eine Stelle als Oberarzt in einem kleinen Ort in der Nähe von Aachen angenommen. Aus „Angst vor den Nazis“ verschwiegen meine Eltern unsere jüdische Herkunft. In Folge meiner Identifikation mit der stolzen und heldenhaften Einstellung zum Judentum, die ich in der Jugendgruppe in Chile kennen gelernt hatte, widersprach ich dieser Haltung meiner Eltern entschieden. Ich erzählte schon am ersten Schultag meinen Mitschülern fast trotzig, dass ich Jude sei. Dafür gab es zu Hause großen Ärger. Am nächsten Tag musste ich meine Aussage rückgängig machen und erklären, dass das mit dem Judentum bloß ein „Missverständnis“ gewesen sei. In den nächsten Jahren lebten wir dann mehr oder weniger „versteckt“, ohne unser Jüdisch sein preiszugeben. Ich arrangierte mich vorerst äußerlich mit der Situation, ohne mich innerlich damit einverstanden zu erklären. In dieser Zeit brachte ich den Protest, den ich zur Entfaltung meiner Autonomie benötigte, über lange Haare und Rockmusik zum Ausdruck.

Erst 1985, als meine Heirat bevorstand, wurde das Thema wieder aktuell. Ich wollte eine eigene Familie gründen und musste nun entscheiden, ob ich weiter meine jüdische Herkunft verschweigen wollte oder nicht. Meine Kinder sollten auf keinen Fall ihre jüdischen Wurzeln leugnen müssen. Daher beschloss ich, das Schweigegebot meiner Eltern zu durchbrechen. Diese Entscheidung fiel mir nicht leicht. Ich rechnete damit, dass ich mit meinem Vater Ärger bekommen würde; also richtete ich mich auf einen Kampf mit ihm ein. Als ich ihm dann meinen Entschluss eröffnete, schaute er mich schweigend an und nickte mir mit Tränen in den Augen zu. So gab er mir seine Zustimmung zu erkennen. Es war ein besonderer Augenblick der Berührung.

Auseinandersetzung mit meinem Jude sein: PAKH


Im Sommer 1995 stieß ich zu einer Gruppe jüdischer und nicht-jüdischer Menschen unterschiedlicher Berufsgruppen, in der Mehrzahl Psychotherapeuten, die die Gründung eines Vereins vorbereiteten, dessen Ziel es sein sollte, sich mit den psychologischen Folgen der transgenerationellen Weitergabe des Holocaust – sowohl auf Seite der Überlebenden wie auf Seiten der Täter – auseinanderzusetzen. So wurde ich Gründungsmitglied des Arbeitskreises fürIntergenerationelle Folgen des Holocaust, ehemals PAKH. (Ursprünglich Psychotherapeutischer Arbeitskreis für Betroffene des Holocaust. PAKH e.V.).

Ich befand mich damals in der Ausbildung zum Psychoanalytiker und war schon psychotherapeutisch tätig. Mir fiel auf, dass die transgenerationellen Aspekte des Holocaust und des „Dritten Reiches“ weder in der Ausbildung noch in Psychotherapien eine erwähnenswerte Rolle spielten. Die Kriegserfahrungen der Eltern und Großeltern deutscher Patienten und deren Geschichten während des „Dritten Reiches“ fan- den meist genauso wenig Beachtung wie die Holocausterfahrungen der Eltern und Großeltern jüdischer Patienten. Die Geschichte meiner Eltern als Überlebende des Holocaust spielte in meiner Lehranalyse kaum eine Rolle. Die öffentliche Diskussion über die deutsche Vergangenheit zeichnete sich noch in den Anfängen der 90er Jahre mehr durch Schweigen und Sprachlosigkeit als durch offene Auseinandersetzung aus. Diese Tatsachen führten dazu, dass ich mich mit meiner Holocaust-Vergangenheit alleine fühlte und die Gesellschaft gleich gesinnter Menschen suchte, die bereit waren, sich mit dieser Thematik auseinander zu setzen.

In der Anfangsphase meiner Mitgliedschaft im PAKH rang ich intensiv mit meinen ambivalenten Gefühlen. Ich engagierte mich in begrenztem Maße für die Arbeit und für die Ziele des Vereins, rang aber gleichzeitig unentwegt mit meinen inneren Widerständen. Mehr als einmal stand ich kurz davor wieder aufzuhören.

Wir wollten damals in unserer kleinen Kerngruppe eine Art „Laboratoriumssituation“, einen Mikrokosmos schaffen, in dem wir die psychologischen Folgen des Holocaust für die Generation der Nachkommen auf beiden Seiten erkennen und verstehen konnten. Wir begriffen, dass das nicht verarbeitete Leid der Überlebenden des Holocaust, sowie die nicht eingestandene Schuld der Täter als unbewusste Aufträge an die Kinder weitergegeben werden: Während die einen die Verluste ihrer Eltern zu betrauern hatten und gleichzeitig zu Trägern von deren ungelösten Ressentiments wurden, waren die anderen mit der Schuld der Eltern konfrontiert, die nach Ent-Schuldung und Rehabilitierung verlangte, und wurden so mit deren ideologischen Vorurteilen belastet. Die transgenerationelle Belastungen erschwerten den Dialog zwischen den beiden Untergruppen. Den nicht-jüdischen deutschen Mitgliedern der Gruppe fiel es beispielsweise aufgrund ihrer übernommenen Schuldgefühlen schwer, aggressiv auf die jüdischen Mitgliedern zu reagieren, während die Juden oftmals mit übertriebener Aggressivität auf die nicht-jüdischen Deutschen antworteten. Vamik Volkan, unser damaliger Supervisor, beschrieb diese Dynamik wie folgt:
„Die Mitglieder der PAKH-Kerngruppe waren psychoanalytisch geschulte Kollegen, Personen mit gemeinsamen Interessen und keine Feinde. Ihre deutschen und jüdischen Eltern, Großeltern und Verwandte hatten jedoch unter völlig anderen Bedingungen gelebt. Sie waren Feinde, Opfer und Täter – und die nachfolgenden Generationen haben dieses unselige Erbe sowohl bewußt als auch unbewußt zu tragen. Obwohl inzwischen ein halbes Jahrhundert vergangen war, trugen sie noch immer das unsägliche Trauma des Krieges und der Vernichtung in sich [...]“ (Opher-Cohn et. al. 2000, S. 32).

Inzwischen sind seit dem 14. Juli 1995, dem Tag der Gründung von PAKH, mehr als fünfzehn Jahre vergangen. Das Wichtigste an meiner Arbeit bei PAKH ist vermutlich, dass ich im Laufe der Jahre nicht nur mit anderen jüdischen Geschichten konfrontiert wurde, sondern auch mit den unterschiedlichsten Geschichten meiner deutschen Freunde und Kollegen. Ihre Väter, Mütter, Großeltern und andere Familienangehörige waren auf unterschiedliche Weise am „Dritten Reich“ und am Holocaust beteiligt: als Täter, Mittäter, Mitläufer. Oder sie gehörten einfach zur schweigenden Mehrheit. Einige wenige hatten versucht aktiven oder passiven Widerstand zu leisten. Inzwischen habe ich es besser verstanden, dass auch die Nachkommen der Täter eine schwere Last zu tragen haben: Denn deren Eltern und Großeltern haben es wegen der Schuld, die sie auf sich geladen haben, und der Uneinsichtigkeit, die sie später an den Tag legten, ihren Kindern und Enkeln mehr als schwer gemacht, sie zu lieben und zu achten.

Der sehr persönliche Dialog, den wir im PAKH im Laufe der Jahre entwickelt haben, hat mir geholfen, größere Klarheit über meine jüdische Identität und Geschichte zu gewinnen. Dafür bin ich meinen Freunden im PAKH sehr dankbar.

Ich bin weit davon entfernt, die Fragen, die ich mir im Laufe meines Lebens im Zusammenhang mit meinem Jude sein gestellt habe, beantworten zu können. Aber ich kann jetzt leichter mit dem Bewusstsein leben, dass ich mich zum Judentum bekennen muss; dennoch kann ich nicht als ein im Sinne der Religion oder der Tradition überzeugter Jude leben. Mit dem Wissen um dieses unlösbare Identitätsdilemma verbinde ich die Hoffnung, dass ich die transgenerationelle Bürde, die sich für mich aus dem geschichtlichen Ereignis Holocaust ergeben hat, nicht mehr in einer konflikthaften und deshalb potentiell destruktiven Form an meine Tochter weitergeben werde.


Das Ende einer Tradition


Indem ich eine nicht jüdische Frau geheiratet habe, habe ich möglicherweise einen zentralen „Auftrag“ meiner Eltern erfüllt. Die jüdische Linie in meiner Familie wird damit formal aufhören zu existieren. Denn meine Tochter ist nach den jüdischen Gesetzen keine Jüdin. Ihre Kinder werden dementsprechend keine Juden sein. Dennoch gebe ich meine jüdisch geprägte Geschichte an sie weiter. Darüber waren sich meine Frau und ich bei der Geburt unserer Tochter sehr bewusst. Um dies auch nach außen zu dokumentieren, haben wir damals entschieden, dass sie einen alttestamentarischen Namen tragen sollte: Rahel Salome.

Ich frage mich, was meine getöteten Großeltern empfinden würden, wenn sie vom Himmel aus mitkriegen könnten, dass ihre jüdische Tradition mit mir aufhören wird zu existieren. Mich jedenfalls stimmt die Vorstellung, „Endstation“ einer langen Tradition zu sein, traurig. Ich fühle in mir die menschliche Tragik, in die wir hineingeraten können, wenn wir unser Menschsein und unsere Identität über die Zugehörigkeit zu einem Volk, einer Religion oder einer Nationalität definieren. Nationalismus, Rassismus, Fremdenhass, Intoleranz, Ausgrenzung und den damit verbundenen Verlust an Mitgefühl und Mitmenschlichkeit scheinen die unvermeidbare Kehrseite dieser Bestimmung des Menschenseins zu sein.


Literatur


Amery, J. (1966). Über den Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein. In: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten (S. 130-156). Stuttgart: Verlag Klett-Cotta, 2004.
Brockhaus Enzyklopädie (1989). Mannheim: Brockhaus. Erikson, E. H. (1959). Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1973. Gruen, A. (2000). Der Fremde in uns. Stuttgart: Klett-Cotta.
Opher Cohn, L., Pfäfflin, J., Sonntag, B., Klose, B. & Pogany-Wnendt, P. (Hrsg.) (2000). Das Ende der Sprachlosigkeit? Auswirkungen traumatischer Holocaust-Erfahrungen über mehrere Generationen. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Rosenthal, P. (2001). Entlang der Venloer Straße. Briefroman. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2003.
Volkan, V. (1999). Das Versagen der Diplomatie. Zur Psychoanalyse nationaler, ethnischer und reli- giöser Konflikte. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Winnicott, D. W. (1965). Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. Gießen: Psychosozial-Verlag, 2000.

Eine Besprechung des Textes gibt es auf haGalil.

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