Lange Zeit hatte ich es vermieden nach Rumänien
zurückzureisen. Der Hauptgrund war, dass ich in meiner eigenen Stadt nicht als
Westler wahrgenommen werden wollte. Denn aus dem Westen zu kommen, hatte eine
so große Bedeutung, dass die Identität des Einzelnen, auch unter Freunden in
den Hintergrund geriet. Man konnte sich dagegen kaum wehren und deswegen hatte
ich nach meiner Ausreise lange Zeit darauf verzichtet nach Rumänien
zurückzukehren.
Irgendwann überwog die Neugier und ich reiste mit
meiner Frau, den Kindern und Freunden „zurück“ nach Rumänien. Es ging über
Budapest nach Siebenbürgen. Eines unserer Reiseziele war Tîrgu –Mureş.
Eine Stadt am Marosch, die mit ihrer kaputt renovierten Innenstadt aus dem
Gruselkabinett sozialistischer Architektur planmäßiger Trostlosigkeit
hervorgegangen ist. Sie wirkte auf mich so, als hätte sie Heimat ganzer Scharen
von Selbstmördern sein können, aber vielleicht auch nur deswegen, weil ich die
Rückreise nach Rumänien mit Arad begonnen hatte. Ich hätte mir ja denken können,
dass mit der Erfahrung verlorener Erinnerungen, dem Verschwinden von Freunden
und Bekannten aus der Vergangenheit bald ein unplanmäßiger Reisegefährte mit
von der Partie sein würde: der Tod. Eigentlich kein Überraschungsgast, wenn man
sich um Vergangenes bemüht. Als wollte ich mich von diesem Gesellen befreien,
dachte ich kaum dort angekommen: bloß kein langer Aufenthalt! Aber bis zur
Abfahrt nach Klausenburg mussten wir noch einige Stunden in dieser Stadt
bleiben, deren Zentrum auf mich, wie ein Toter im Sonntagsanzug wirkte, und
deren Zukunft auch schon vergangen zu sein schien.
Angesichts einiger wild verfallenen Häusern, fragte
eine meiner Töchter:
„Papa, war hier Krieg?“
Irgendwann ging es dann doch weiter, zumindest für
uns, über Turda durch die „Cîmpiile Turzii“, die Turdaer Felder. Mais und
Weizenfelder einerseits, dann hie und da orange-, oder violettgesprenkelte
Obstbäume. Am Straßenrand boten Bauern Käse und Obst an. Schilf säumte die Ufer
der Teiche entlang kleiner Feldwege, wo Angler ihre Köder nach Karpfen
auswarfen. In der Ferne sah ich einen einsamen Hügel, der sich wie ein Brotleib
aus der Tiefebene erhob. Die Felder drumherum waren gelb, vielleicht hellbraun
und das Grüne der Wiesen erahnte man eher, als dass man es noch sah. Am Samoschufer
klebte sattes Moos und der Fluss strömte mit erstaunlicher Wucht durch das
flache Bett dieser ungeordneten Tiefebene einem diesigen Horizont entgegen. Der
Reichtum der vom blauen Himmel bedeckten Felder stach nicht gerade ins Auge und
dennoch hat er die Menschen dieser Gegend während Krieg, Diktatur, Korruption,
und Ausbeutung über Wasser gehalten. Auf dem gegenüberliegenden Ufer sah ich
eine mit Heu beladene Pferdekutsche ins nächste Dorf hinaufzockeln.
Wir fuhren weiter Richtung Klausenburg, wo sich das
Grab meines Großvaters Samuel auf einem der Hügel vor der Stadt befindet. Ich
hatte es einmal als Kind mit Großmutter und Vater besucht und kann mich noch an
den Friedhofsaufseher erinnern, der Rabbi und Kantor in einem war. Jedenfalls
bekam er von meinem Vater ein paar Lei, damit er für Samu den Kaddisch, das
heilige תְגַּדַּל וְיִתְקַדַּשׁ שְׁמֵהּ רַבָּא
yit̠gaddal
wǝyit̠qaddaš šǝmēh rabbā’ sprechen solle. Er sang
auch etwas Hebräisches, der Kaddisch war es nicht, denn der Minjen fehlte, die
zehn Männer, die für dieses Gebet notwendig gewesen wären. Sein fremder Gesang
senkte sich mit dem Sommerwind in die Tiefebene und ich fühlte, dass das
Unbekannte der Sprache und der Melodie in der Stimme des Kantors in einer
verborgenen Weise mit etwas in mir verbunden war, einem möglichen Selbst, einem
Selbst, der ich damals, als Schüler der vierten Klasse einer sozialistischen
Schule nicht war, und wie ich glaube, auch als Tourist aus Deutschland nicht
wirklich geworden bin. Das Anderswerden vergegenwärtigte sich aus der
Erinnerung, die mit dem eben Erlebten auf etwas deutete, was eine ganze Zeit
der Kindheit begleitend, sich im Schreiben und im Lesen auch von Texten wie dem
folgendem von Rabi Akiba vergegenwärtigte.
„Und allen offenbarte er einen Namen, dem Moses
aber offenbarte er alle Namen, sowohl die unaussprechlichen, als auch die
Namen, welche auf der Krone des Königtums, die an seinem Haupte ist,
eingegraben sind, als auch die Namen, die auf dem Throne der Herrlichkeit
eingegraben sind, als auch die Namen, die an dem Siegelring an seiner Hand
eingegraben sind; sowohl die, die stehen wie Feuersäulen rings um seine
Merkaba, als auch die Namen, welche die Schechina umgeben gleich den Adlern der
Merkaba; als auch die Namen, mit denen Himmel und Erde, Meer und Trockenes,
Berge und Täler, die Meerungeheuer der Urtiefe und die Ordnungen der Schöpfung,
der Ma’onoth, des Zebul, und der Araboth, und der Thron der Herrlichkeit, die
Schätze des Lebens und die Schätze des Segens, die Speicher des Taues und des
Regens, und die Speicher der Blitze, die Speicher der Wolken die Speicher der Geister
und die Speicher der Seelen der Lebenden und Toten, gesiegelt worden sind.“
Ich suchte nach dem Ort an dem der Gesang des
Kantors damals stattgefunden hat, ein Gesang aus der Ferne des untergegangenen
Judentums Osteuropas, der durch so viel Zeit bis zu dem Grab meines
Großvaters gedrungen ist, den ich nicht gekannt hatte.
Ich fragte weiter nach dem Friedhof, aber niemand
wusste Genaues: „Ein jüdischer Friedhof, aber ja, es gibt hier sogar zwei
davon, ganz in der Nähe, nur wo?“ Ich habe keinen gefunden, schade. Diese Reise
lehrte mich, und weder war es anders zu erwarten, noch bin ich selbst falschen
Hoffnungen aufgesessen, dass die Orte der Erinnerung in der Wirklichkeit
unauffindbar sind. Ich besuchte sie, aber ich fand sie nicht. Und stieß ich auch
auf Bekanntes, war es fremd, es war immer anders fremd, weil das Unmittelbare,
der Eindruck, von damals, den ich als Erinnerung in mir trug und in mir trage,
und das, was ich vor Augen hatte, sich hie und da wie auf einer überbelichteten
Photographie überlagerte und an anderen Ecken und Enden gegenseitig löschte.
Ich reiste wie ein Zaungast an der Schattenlinie
einer Vergangenen Zeit, deren Verlust mir während der Rückreise wie befürchtet
nur bewusster und schmerzhafter wurde. Aber der Verlust der Orte hat ihre
Kehrseite in einer Art Partitur der Stille, in der die Melodien meiner Kindheit
aufbewahrt sind: Stairways to heaven, trei culori cunosc pe lume, oder der
Gesang des Kantors.
Zwei Wochen nach dem Aufenthalt in Klausenburg,
während der Rückkehr von der Rückkehr stand ich vor dem jüdischen Friedhof in
Budapest. Der war zu finden und der Weg dahin eigentlich einfach: man fuhr mit
der Straßenbahn aus der Stadt hinaus, vorbei an einem Gefängnis, stieg ein-,
zweimal um, und dann ging es nur noch geradeaus durch die Trostlosigkeit der
Budapester Vororte. Dann war man am Friedhof. Ich fand das Tor weit offen, und
ging hinein, einfach so, ohne Anmeldung. Der äußerliche Verfall kroch mit
hinein, das Gelände war verwildert. Die großen Spazierwege zwischen den
Gräbergruppen waren noch begehbar, aber einzelne Gräber kaum zu erreichen. Sie
waren mit Moos und Gehölz und fingerlangen Dornen überwachsen wie bei
Dornröschen, nur war dort kein Märchenprinz in Sicht. Auf zersprungenen
Grabsteinen konnte man die Namen der Toten kaum entziffern, manche Grabsteine
waren eingebrochen, andere irgendwie zur Seite gekippt, abgedreht oder
-gewendet. Und von überall wuchsen diese spitzen Stacheln aus der Erde. Leicht
hätte man stolpern und sich verletzten können, so dass es für mich kein
beschaulicher Totensonntag wurde, und auch diese Toten, die im Leben
wahrscheinlich so friedlich wie Schafe waren, verstanden dort in ihrer
gedächtnislosen Ewigkeit keinen Spaß – sie wehrten sich. Das war ein
Privatgelände, kein Platz um auszuharren, und ich machte mich schon auf den
Rückweg, als ich einen breiten Säulengang entdeckte, der durch das
Friedhofsgelände irgendwie quer zu verlaufen schien und scheinbar ins Nirgends
führte. Ich zögerte einen Augenblick, dann folgte ich einer Allee in die
Richtung dieser Säulen. Die Sonne strahlte am hellblauen Himmel und der Stein
reflektierte das Licht. Ich ging weiter darauf zu, wie man so geht, ohne zu
wissen warum, vielleicht weil das Licht weh tut, man einen heißen Kopf hat:
noch ein Schritt und dann ist es getan, dann hat man die Augen wieder frei. Ich
schritt durch die Allee geblendet, ohne Sicht und hörte unter meinen Füßen die
Kieselsteine des Friedhofs knirschen. Die Gräber traten in den Hintergrund und
wie getragen von dem Geflüster der sonnengerösteten Kiesel tauchte ich aus dem
Licht und stand vor dem ersten Säulenbogen: Aaron Jakob, Aaronson Eda, Abraham
Klari, Abrahamson Salomon, Aron Gabor, Oskar... scheinbar nicht enden wollende
Namenslisten reihten sich von A bis Z auf die Säulenwände und flimmerten vor
meinen Augen. Es handelte sich um eine Erinnerungstafel für die deportierten
Budapester Juden. Weiter vorne links war eine kleine Baumgruppe, vielleicht
Platanen, ich atmete tief durch und wollte schon dorthin in deren Schatten,
doch sah ich zwischen den eingravierten Namen andere Namen, die nachträglich
von Hand dazwischengeritzt worden sind, sozusagen im letzten Moment, mit dem
letzten Atemzug der Erinnerung, im Grunde schon zu spät, aber gerade noch
rechtzeitig, um noch eine Erinnerung vor der Endlösung zu retten. Manche Namen
konnte man kaum entziffern, so wie sie da, von Hand, in den Marmor geritzt waren.
Die notdürftige, flüchtige Mühe Unbekannter stand dort zwischen den Zeilen
nicht enden wollender Namensreihen. Skizziertes drängte sich ins vollendete
Werk der Vernichtung: auch der noch, und auch der, und der Schwarz, und auch
der Weiss und der Salomon, und der…
Ich machte kehrt wie aus einer Sackgasse und
verließ diesen Ort in Richtung Haltestelle. In der Tram war ich der einzige
Fahrgast.
Peter Rosenthal,
Auszug eines noch unveröffentlichten Romanmanuskript, mit freundlicher
Genehmigung
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