"Für die Christen im Besonderen gilt es, immer wieder
neu, auch gegenüber Eindrücken, die vielleicht da und dort negativ sind, ein
rechtes Bild von der Judenschaft zu erhalten und auch für dessen Verbreitung zu
sorgen. Sie wird vor allem die Besonderheit der Juden anerkennen als etwas für
die Judenschaft Notwendiges, bis hin zu den rituellen Gebotserfüllungen. Sie
wird es verstehen und für Verständnis dafür sorgen, daß die Judenschaft auf dem
von ihr nun einmal beschrittenen Wege bleiben und darin selbst sich festigen
und stärken, auch in neuen Erkenntnissen üben muß, selbst wenn dies der Umwelt
befremdlich ist. Gerade vor dies befremdliche Wesen hat sich die Christenheit
schützend zu stellen. Sie hat selbst sich zu bemühen um Verständnis für Weg und
Geschichte der Judenschaft bis in die Gegenwart, so wahr das Gegenüber von
heute dem Gegenüber von einst immer noch entspricht und die Zwischenzeit der
verschiedenen Wege durchaus nicht eine Zeit der getrennten, sondern ebenso oft
auch sich schneidenden, kreuzenden, miteinander verlaufenden Wege ist. Zu jener
Solidarität und den Folgen daraus gehört in unseren Tagen eine echte
Verbundenheit mit der neuesten Form der volkhaften Existenz der Juden. Weder
wird die Christenheit schwärmerisch den Judenstaat mit irgendeiner Form von
Verwirklichung des Reiches Gottes oder eines friedlichen und herrlichen
Endzustandes der Judenschaft verwechseln, noch wird sie auf der anderen Seite
in diesem Staat eine rein profane Angelegenheit sehen, ein Volk wie andere, ein
Staat wie andere. Immerhin ist er ein Staat von Juden, ist er ein Stück der
Judenschaft, gehört zu ihrem Leben und ist eine ihrer Lebensformen."
Günther Harder: Die Bedeutung der Auserwähltheit Israels für
die Christen, in: Kirche und Israel, Berlin 1986, S.153, Erstveröffentlichung
in Molinski (Hg.): Unwiderrufliche Verheißung, Recklinghausen 1968
Was mein Großvater da kurz nach meiner Geburt formulierte,
klingt für mich heute aus verschiedenen Gründen fremd. Ich bin der Kirche schon
vor langer Zeit abhanden gekommen, unerreichbar für theologische
Argumentationen auch aus dem Umfeld der Bekennenden Kirche. Begriffspaare wie
Christenheit versus Judenschaft klingen für mich wie aus einer vergangenen Zeit
geliehen. Und sie klingen nicht schön: Judenschaft würde man heute wohl nicht
mehr sagen, weil die letzte Silbe in einigen ihrer militärischen Verwendungen
in Verruf gekommen ist. Auch der moralische Imperativ, der den Text antreibt,
appelliert an einen nur noch in Erinnerungen vorhandenen Teil von mir, obwohl
er einen gegenwärtigen treffen könnte. Was ist mit denen, die sich keinem
Christentum mehr verpflichtet fühlen, sondern jenem unscharf als Humanismus
bezeichneten Konglomerat, das mit diesem Begriff von allen religiösen
Überzeugungen abgegrenzt wird? Sind sie aus dem moralischen Imperativ
entlassen? Betrifft die Verpflichtung zur Anerkennung nur die Christenheit?
Gerade in der Geschichte dieses Humanismus spielt die Verschmelzung von im
Sinne einer nichtreligiösen Weltsicht "aufgehobenen" christlichen und
jüdischen Gedanken eine entscheidende Rolle. Die darin verwirklichte friedliche
Koexistenz ehemals theologischer Denkformen durchzieht die Geschichte der
Philosophie und der Literatur der letzten zwei Jahrhunderte. Sie hat sogar die
Brutalitäten der Nazizeit überlebt, vorwiegend allerdings nicht in Deutschland.
In einer Situation, in der das Christentum auf den
absteigenden Ast geraten ist und Appelle wie der obige niemanden mehr zu
erreichen drohen, fragt es sich, wie die Forderung des Tages denn heute sein
müsste. Die "sich schneidenden, kreuzenden, miteinander verlaufenden
Wege" gilt es, im beiderseitigen Interesse weiter zu verfolgen. Denn alle
Versuche, mit Begriffsoppositionen in diesem schwierigen Feld Gegensätze zu
behaupten beweisen nur, dass hier mit viel argumentativem Aufwand und
geschichtlich oft genug mit extremer Grausamkeit etwas getrennt werden soll,
was immer schon zusammen gehört hat.
Marcus Seibert, 22.3.2012
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