Donnerstag, 22. März 2012

Kirche und Israel

"Für die Christen im Besonderen gilt es, immer wieder neu, auch gegenüber Eindrücken, die vielleicht da und dort negativ sind, ein rechtes Bild von der Judenschaft zu erhalten und auch für dessen Verbreitung zu sorgen. Sie wird vor allem die Besonderheit der Juden anerkennen als etwas für die Judenschaft Notwendiges, bis hin zu den rituellen Gebotserfüllungen. Sie wird es verstehen und für Verständnis dafür sorgen, daß die Judenschaft auf dem von ihr nun einmal beschrittenen Wege bleiben und darin selbst sich festigen und stärken, auch in neuen Erkenntnissen üben muß, selbst wenn dies der Umwelt befremdlich ist. Gerade vor dies befremdliche Wesen hat sich die Christenheit schützend zu stellen. Sie hat selbst sich zu bemühen um Verständnis für Weg und Geschichte der Judenschaft bis in die Gegenwart, so wahr das Gegenüber von heute dem Gegenüber von einst immer noch entspricht und die Zwischenzeit der verschiedenen Wege durchaus nicht eine Zeit der getrennten, sondern ebenso oft auch sich schneidenden, kreuzenden, miteinander verlaufenden Wege ist. Zu jener Solidarität und den Folgen daraus gehört in unseren Tagen eine echte Verbundenheit mit der neuesten Form der volkhaften Existenz der Juden. Weder wird die Christenheit schwärmerisch den Judenstaat mit irgendeiner Form von Verwirklichung des Reiches Gottes oder eines friedlichen und herrlichen Endzustandes der Judenschaft verwechseln, noch wird sie auf der anderen Seite in diesem Staat eine rein profane Angelegenheit sehen, ein Volk wie andere, ein Staat wie andere. Immerhin ist er ein Staat von Juden, ist er ein Stück der Judenschaft, gehört zu ihrem Leben und ist eine ihrer Lebensformen."
Günther Harder: Die Bedeutung der Auserwähltheit Israels für die Christen, in: Kirche und Israel, Berlin 1986, S.153, Erstveröffentlichung in Molinski (Hg.): Unwiderrufliche Verheißung, Recklinghausen 1968

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Was mein Großvater da kurz nach meiner Geburt formulierte, klingt für mich heute aus verschiedenen Gründen fremd. Ich bin der Kirche schon vor langer Zeit abhanden gekommen, unerreichbar für theologische Argumentationen auch aus dem Umfeld der Bekennenden Kirche. Begriffspaare wie Christenheit versus Judenschaft klingen für mich wie aus einer vergangenen Zeit geliehen. Und sie klingen nicht schön: Judenschaft würde man heute wohl nicht mehr sagen, weil die letzte Silbe in einigen ihrer militärischen Verwendungen in Verruf gekommen ist. Auch der moralische Imperativ, der den Text antreibt, appelliert an einen nur noch in Erinnerungen vorhandenen Teil von mir, obwohl er einen gegenwärtigen treffen könnte. Was ist mit denen, die sich keinem Christentum mehr verpflichtet fühlen, sondern jenem unscharf als Humanismus bezeichneten Konglomerat, das mit diesem Begriff von allen religiösen Überzeugungen abgegrenzt wird? Sind sie aus dem moralischen Imperativ entlassen? Betrifft die Verpflichtung zur Anerkennung nur die Christenheit? Gerade in der Geschichte dieses Humanismus spielt die Verschmelzung von im Sinne einer nichtreligiösen Weltsicht "aufgehobenen" christlichen und jüdischen Gedanken eine entscheidende Rolle. Die darin verwirklichte friedliche Koexistenz ehemals theologischer Denkformen durchzieht die Geschichte der Philosophie und der Literatur der letzten zwei Jahrhunderte. Sie hat sogar die Brutalitäten der Nazizeit überlebt, vorwiegend allerdings nicht in Deutschland.

In einer Situation, in der das Christentum auf den absteigenden Ast geraten ist und Appelle wie der obige niemanden mehr zu erreichen drohen, fragt es sich, wie die Forderung des Tages denn heute sein müsste. Die "sich schneidenden, kreuzenden, miteinander verlaufenden Wege" gilt es, im beiderseitigen Interesse weiter zu verfolgen. Denn alle Versuche, mit Begriffsoppositionen in diesem schwierigen Feld Gegensätze zu behaupten beweisen nur, dass hier mit viel argumentativem Aufwand und geschichtlich oft genug mit extremer Grausamkeit etwas getrennt werden soll, was immer schon zusammen gehört hat.

Marcus Seibert, 22.3.2012

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